Leid & Kunst

Chuck Palahniuk erzählt seine wüsten Geschichten wie auf Parties

Sie kennen die Geschichten von den Frauen, die nachts in der Notaufnahme aufkreuzen, zwischen den Schenkeln eine Coca-Cola-Flasche, die sich an den Innereien festgesaugt hat? Die Sache mit den Diamantbohrern, die für solche Fälle bereitliegen, zum Aufbohren des Flaschenbodens und damit Aufheben des Vakuums? Oder die Legende, daß eine Frau, die im Flugzeug breitbeinig auf der Toilette sitzt, aber vergessen hat, die Tür abzuschließen, in Wahrheit Kontakt sucht zu experimentierfreudigen Menschen? Oder diese von David Bowie im Gespräch mit William Burroughs entwickelte Überlegung, wie es wäre, Zuhörer mit Klang zu killen, aufgegriffen auch von Lester Bangs (der Kraftwerk damit extrem verstörte) und geliebt von Devo? Oder aber die Theorie, nach der alle Kunst von Leiden kommt, folglich möglichst perverse Schmerzen auch großartige Kunst fördern?

Chuck Palahniuk kennt und liebt diese Geschichtchen. Er sammelt sie, genauso wie seine eigenen Ängste und Psychosen und Sprüche und Mantren, die er in Kneipen und Sexschuppen aufschnappt. Dann nimmt er die vielen Zettelchen, mixt und arrangiert sie, im Hintergrund laufen dazu Nine Inch Nails oder Marilyn Manson oder Techno oder Klassik – und ein neuer Roman von Palahniuk erblickt das Neonlicht unserer Welt. „Erzählungen, also aufgeschriebene Stories: Wir nehmen immer an, daß die formal sehr ordentlich sein müssen, halt wie richtige Bücher und ganz anders als erzählte Geschichten. Diese Idee, daß eine aufgeschriebene Geschichte diesen Konventionen zu gehorchen hat, finde ich bescheuert. Ich versuche, meine Stories so zu erzählen, wie man sie guten Freunden auf einer Party erzählen würde. Ähnlich der Stand-up-Comedy, der letzten überlebenden Form des Geschichtenerzählens: alles sehr schnell, sehr direkt, es geht um Timing und Tempo und um die Art der Darbietung. Das ist also angefüllt mit Kniffen, die den Informationsfluß steuern, damit der Plot dann mit dem größtmöglichen Schlag beim Publikum landet.'“ Alle Bücher Palahniuks sind randvoll mit diesen Kniffen – was beim Lesen auf mehreren Levels unterhält: so wie man einen technisch versierten Boxer beobachtet, als Zuschauer, aber auch als Opfer. Denn Palahniuk reißt jeden in den Strudel seiner Stories, entführt einen mittels Action in eine andere Welt.

„Nihilistisch und subversiv“ ist das für die „Welt am Sonntag“. Von dem Unschuldige in den Tod lullenden Kinderliedchen in „Lullaby“ war „Der Spiegel“ hingegen hellauf begeistert, Palahniuks jüngster Roman, „Das letzte Protokoll“, wurde von der „FAS“ ebenfalls gefeiert. Kein Grund, ihn nun nicht mehr zu lesen. Denn seine Technik hat er verfeinert, DJ-Kniffe wie Wiederholungen von Refrain- und Chorus-ähnlichen Zweizeilern, der Wechsel aus nüchterner Beobachtung wie von Douglas Coupland und Horror, Schock und Spannung. Doch der Stoff, sein Material ist immer anders. „Das letzte Protokoll“ bietet von allem mehr, kulminiert in einer kakophonen Coda.

Palahniuk, Arbeiterkind aus dem Nordwesten der USA, suhlt sich nicht lange in solchem Lob: „Man kann eine Karriere doch beim besten Willen nicht darauf aufbauen, einen Song immer wieder und wieder zu spielen. Ich meine, wenn du etwa siehst, wie die Everly Brothers in Las Vegas zum millionensten Mal ,Loving Feeling‘ singen, dann hat das doch was unglaublich Trauriges: Wenn jemand gezwungen ist, sein Leben lang die Person zu sein, die er mit 17war. Nur weil es nun mal das ist, was das Publikum will, wofür es zahlt. Für mich muß sich jedes Buch möglichst extrem von seinem Vorgänger unterscheiden.“

Als Palahniuk von Drogen und Fließbandjobs die Schnauze voll hatte, schrieb er sein erstes Buch, eine Collage, die Fashion und Modediktat auf den Kopf stellt, wo sich die Supermodels nicht mehr mit Heroin-Chic schmücken, nicht länger schminken wie suizidgefährdete Nachtfalter, sondern sich tatsächlich zerstümmeln. Wunderbar, wollte niemand verlegen, gibt es auf Deutsch bis heute nicht. „Fight Club“ wurde veröffentlicht, verfilmt, Kult „Flug 2039“ beginnt mit Kapitel 47, Seite 313, das Mitglied einer Suizidsekte diktiert in die Blackbox: „Test Test Eins, zwei, drei. Ob das Ding überhaupt funktioniert?“ sollte verfilmt werden, lag auch auf Deutsch vor, wurde nach dem 11.9.2001 aber erst mal verschoben. „Der Simulant“ ist die Geschichte der Sexmaniacs, hat was zu tun mit konservierter Vorhaut, was Palahniuk von Marilyn Manson mindestens erzählt bekam. Mit „Lullaby“ dann auch hierzulande der Durchbruch, für Verfilmung zu düster – und „Das letzte Protokoll“ dürfte das vorerst letzte Wort auf dieser Schiene sein. Palahniuks nächstes Prosawerk besteht aus mehreren eigenständig funktionierenden Stories; weiter geht es vermutlich mit einem Ficu’on/Fact-Mix, der alle noch extremer verstören wird. Palahniuk ist, man ahnt es, ein Moralist.

Wie also verhält sich das mit der Kunst und dem Leiden? Was ist mit dem Charakter in „Protokoll“, der sich wiederholt die Brustwarzen durchbohrt, um so Leiden zu erfahren und Kunst zu erschaffen? „Meine eigene Meinung dazu? Ich würde sagen, wir bewältigen, wir verdauen unser Leben, indem wir Sachen, die uns zustoßen, in Geschichten umwandeln; also die Sachen, die uns Probleme machen, die wir nicht akzeptieren. Die transformieren wir in Geschichten, die wir dann anderen mitteilen, um Mitleid zu erregen oder Lacher zu erzeugen oder auch, um die Person, der wir das erzählen, wenigstens für eine bestimmte Zeit zu vereinnahmen, zu beherrschen. Diese Geschichten erzählen wir immer wieder, bis sie uns dann am Ende kaum noch berühren. Aber heute erzählst du nicht mehr… Was war noch mal die Frage?“

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