Martin Scorsese ist der größte Oscar-Loser der jüngeren Oscar-Geschichte

Jahrzehntelang kämpfte er um den Final Cut. Kaum hat er ihn, gibt es keine Oscars mehr für seine Filme.

Martin Scorseses vorletzter Film heißt „The Irishman“. Er erschien 2019 und dauerte 209 Minuten. Drei Stunden und 29 Minuten.  Er wurde für zehn Oscars nominiert.

Scorses jüngster Film ist „Killers of the Flower Moon“ von 2023. Nominiert wurde er für zehn Oscars. Er dauert: 206 Minuten. Drei Stunden und 26 Minuten.

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Eigentlich ein Traum, oder? Fett aufgestellte Streamingdienste erlauben einem der bedeutendsten Regisseure aller Zeiten, einen Film zu drehen, der so lang sein darf, wie der Regisseur will. Dazu erhält er das Anrecht auf den Final Cut. Mit diesem Final-Cut-Privileg befindet sich der 81-jährige in einem exklusiven Zirkel von Filmemachern, dem außer ihm noch Steven Spielberg, Quentin Tarantino und Christopher Nolan angehören.

„The Irishman“ wurde von Netflix produziert, „Killers of the Flower Moon“ von Apple – beide Konzerne sind froh gewesen, die „New Hollywood“-Legende für Projekte an sich gebunden zu haben. Beide Arbeiten brachten Scorsese einige der besten Kritiken seiner mehr als 50 Jahre andauernden Karriere ein.

Und doch ist Martin Scorsese der mit Abstand größte Oscar-Loser der jüngeren Oscar-Geschichte. Unglaubliche 26 Nominierungen erhielten seine vier Filme seit 2015, „The Wolf of Wall Street“, „Silence“, „The Irishman“ sowie „Killers of the Flower Moon“ – und nicht eine einzige Auszeichnung ging an ihn oder sein Team.

Was bei „Silence“ einfach Pech sein kann –lediglich Kameramann Rodrigo Prieto war nominiert –, ist beim „Wolf“, dem „Irishman“ und bei den „Killers“ ein Riesenpech. Man muss schon einigermaßen aufwendig suchen, um Filme zu finden, die zuletzt so viele Academy-Awards-Nominierungen (fünf, zehn, zehn) erhielten und dann komplett leer aus gingen. Selbst der zweitgrößte Oscar-Loser der jüngeren Oscar-Geschichte, Steven Spielberg, nach „Saving Private Ryan“ 1998 noch zigmal nominiert, nie mit Glück bedacht, kam 2023 mit dem in Gänze ignorierten „The Fabelmans“ nur auf sieben Nominierungen.

Für Martin Scorsese muss das sehr beunruhigend sein. Für  „The Irishman“ und „Killers of the Flower Moon“ erhielt er alle Freiheiten, seine Geschichte auszubreiten. Und gerade er litt ab den 1970er-Jahren bis in die Nullerjahre oft unter den Vorgaben der Studios bzw. Produzenten, die ihn zur Kürzung seiner Arbeiten anhielten. „After Hours“ von 1985 gilt heute als kleines Meisterwerk, aber Dreharbeiten und Post-Produktion waren für Scorsese purer Stress. Für Miramax drehte er 2001 „Gangs of New York“, angeblich legte Harvey Weinstein, auch bekannt als Harvey Scissorhands, selbst Hand im Schneideraum an, um die Erzählung von mehr als 200 Minuten auf 163 Minuten zu trimmen. Scorsese machte das mit, er ertrug auch Weinstein, weil nur Miramax sein Herzensprojekt über die Frühzeit der New Yorker Bandenkriminalität umsetzen wollte.

Lag Weinstein richtig mit seiner Vermutung, dass „Gangs of New York“ ohne seinen Eingriff zu lang geworden wäre, um erfolgreich zu sein? Auch dieser Film ging – bei zehn Oscar-Nominierungen – komplett leer aus. Dafür spielte er fast 200 Millionen Dollar ein, war ein Hit. Netflix und Apple brachten die zwei Scorsese-Epen nur deshalb – kurzzeitig – ins Kino, damit sie die Kriterien für Oscar-Nominierungen erfüllten.

Netflix und Apple können kübelweise Geld über ihren Wunder-Regisseur auskippen – die Oscars zahlen es bislang nicht zurück. Dass die Academy Scorsese allein wegen der Länge seiner jüngeren Filme abstraft, ist zwar kaum vorstellbar. Was soll das überhaupt sein – „Überlänge“? Die „Überlänge“ ist ein im Grunde filmfeindlicher, unseren Wunsch nach Sehgenuss ad absurdum führender Ausdruck, den natürlich nicht Zuschauer, sondern nur Kinos verwenden.

Aber es wird nun auch deutlich, dass ein frei spielender Martin Scorsese keine freie Bahn bei den Oscars hat. Und „Parasite“ war schlicht besser als der „Irishman“, „Oppenheimer“ besser als die „Killers“. Dass er seinen einzigen Regie-Oscar 2006 ausgerechnet für „The Departed“ erhielt, ein sehr guter, aber nicht sein herausragender Film, passt ins Bild, dass Martin Scorsese und die Oscars nicht so recht zusammenpassen wollen. Der „Departed“-Oscar war ein Anerkennungs-Oscar für seine Lebensleistung, keine Ehrung dieses Films.

Spieldauer ist selten ein Argument für die Qualität. Werfen wir dennoch einen Blick auf Scorseses drei meistgefeierten Werke: „Taxi Driver“ dauerte 114 Minuten, „Raging Bull“ 129 Minuten und „GoodFellas“ 146 Minuten.

Wer spricht nun mit Scorsese, damit er entweder die Streamer verlässt – oder wieder kürzere Filme dreht? Seine langjährige Weggefährtin im Schneideraum, die Cutterin Thelma Schoonmaker, wird es wohl nicht tun.

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