Mary In The Junkyard: Immersive Kunst auf Radiohead-Spuren

Namhafte Produzenten und eine ausgeprägte DIY-Ethik: Die beste neue Rockmusik aus Großbritannien.

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Beim Betreten des Headliner-Konzerts von Mary in the Junkyard in den Corsica Studios im Süden Londons wird Rolling Stone UK in einen Nebenraum geführt, wo vor dem Hauptkonzert eine „Yeti-Beerdigung“ versprochen wird. In einem zweiten Raum findet die Totenwache einer Figur statt, die erstmals im Video zur Debütsingle der Band, „Tuesday“, vorgestellt wurde.

„Yeti not forgeti“, hat ein Fan ins Gästebuch geschrieben. Ein eigens komponiertes Akkordeon-Stück der Sängerin Clari Freeman-Taylor erklingt, während Rauchschwaden ausgestoßen werden und das leblose Wesen in der Mitte einhüllen.

Immersive Kunst

Seit ihrem Auftauchen mit „Tuesday“ im vergangenen Jahr hat sich die Band Mary in the Junkyard ganz dieser Art der immersiven Kunst verschrieben. Sei es in ihrer Musik, ihren Artworks oder ihren Videos. Alles wird von der Band selbst gestaltet. Sogar die Bühnenoutfits für den Corsica-Auftritt haben sie sich gegenseitig genäht.

Die Musik selbst wirkt wie die Spitze des Eisbergs. Aber die ersten Veröffentlichungen des Trios zählen zu den spannendsten Indie-Tracks, die London in diesem Jahrzehnt hervorgebracht hat. Angeführt von Freeman-Taylors einnehmender und einzigartiger Stimme machen sie lärmenden, wilden Gitarrenpop mit viel Tiefe und Komplexität. Durch etwa 30 bis 40 Auftritte im Brixton Windmill allein im Jahr 2023 hat sich die Band den Ruf einer beeindruckenden Liveband erarbeitet. Ein Eindruck, der auf der Debüt-EP „This Old House“ brillant eingefangen wurde.

Vom Schlafzimmer auf die Bühne

Ein paar Wochen vor dem Corsica-Konzert trifft ROLLING STONE UK die Band in einem Pub direkt gegenüber des Veranstaltungsorts, bevor sie hineingehen, um den Raum zu begutachten und perfekte Pläne für den letzten Abschied des Yetis zu schmieden. Das Trio – Freeman-Taylor, Multiinstrumentalistin Saya Barbaglia und Schlagzeuger David Addison – spricht lebhaft und euphorisch, fällt sich gegenseitig ins Wort und macht deutlich, wie eng ihre Leben als Bandmitglieder und Freunde verwoben sind.

Freeman-Taylor und Barbaglia lernten sich im Jugendorchester kennen, während Freeman-Taylor und Addison während des Lockdowns das Projekt Second Thoughts betrieben, das – notgedrungen – online eine Fanbasis aufbaute und auf Discord und TikTok setzte. „Was wir jetzt machen, ist eine direkte Reaktion auf all die Musik, die im Schlafzimmer produziert wird“, sagt Barbaglia und lehnt die Idee ab, zuerst ein Album aufzunehmen und dann zu versuchen, die Internet-Fans zu Konzerten zu locken. „Wir haben überhaupt erst ans Aufnehmen gedacht, nachdem wir unzählige Shows gespielt hatten. Wir haben live gespielt, um live zu spielen.“

Prominente Unterstützung

In dieser Zeit hatte die Band die seltene Gelegenheit, frühes, unausgereiftes Material ohne den Druck der Industrie oder des Internets auszuprobieren, um ihren Sound und Stil zu finden. „Es gab einen Song, der hat vielleicht drei Gigs überlebt“, lacht Freeman-Taylor. „Wir hatten viele Nieten!“ Barbaglia ergänzt: „Es gab mal einen Song namens ,Sandwiches’“, woraufhin die Band ihn unisono anstimmt: „I was trying to butter the bread, but my knife slipped / I’m not well enough to make you a sandwich!“

„Er war so lustig und so absurd, aber damals hatte er eine Bedeutung“, sagt Barbaglia, bevor sie den restlichen, charmant-naiven Song fröhlich weitersingt. „Ich schwöre, bei einem der Auftritte hab ich geweint“, lacht sie.

Um den Erfolg ihrer Liveauftritte weiterzutragen, arbeitete die Band mit XL Recordings-Chef Richard Russell zusammen, der Freeman-Taylor zu seinen „Seasonal Jams“ eingeladen hatte – Sessions, bei denen ausgewählte Musiker zu den Tag- und Nachtgleichen in seinem Studio zusammenkommen. Russell hatte die Band durch ein YouTube-Video eines Liveauftritts entdeckt und produzierte sie als erste Band überhaupt.

Unbegrenzte Möglichkeiten

Da Russells Produktionen meist im elektronischen Bereich liegen, gibt es in seinem Westlondoner Studio keinen klassischen Live-Raum. Deshalb bauten Mary in the Junkyard ihr Setup in seiner Küche auf. Das Trio erzählt begeistert vom Duft von Räucherstäbchen, der den Raum erfüllte, von Russells ausgezeichneter Auswahl an Klolektüre und den „kleinen Weisheiten“, die er trotz seiner zurückhaltenden Art immer wieder einstreute. „Er hatte definitiv das große Ganze im Blick – die Songs waren im Grunde schon fertig, als wir ins Studio kamen“, erinnert sich Addison.

Mit musikalischen Wurzeln außerhalb des Indie-Rocks, den sie heute spielen, sehen die drei die klangliche Zukunft von Mary in the Junkyard als leere Leinwand. „Es kann in jede Richtung gehen“, sagt Addison. Barbaglia fügt hinzu: „Wir haben eigentlich keinen Plan. Es geht eher darum, zu schauen, was passiert. Indem wir uns selbst Grenzen setzen, wollen wir herausfinden, wie viel wir darin erreichen können.“

Vorbild: Radiohead

Diese Vision wird beim Corsica-Konzert deutlich. Die Show lebt von einer Mischung aus verrücktem Humor und durchdachter, hervorragend konstruierter Musik. Während sie neues Material mit der spielerischen Präzision der „In Rainbows“-Ära von Radiohead darbieten, hängt über ihnen das Pappmaché-Maskottchen Brian. Eines seiner leuchtenden Augen fällt zwei Drittel des Konzerts aus, was aber nur den charmant improvisierten DIY-Charakter der Show unterstreicht.

„Was uns als Band wichtig ist, ist, dass wir immer ein bisschen ungeschliffen bleiben“, sagt Addison. Freeman-Taylor ergänzt: „Wir machen die Dinge gerne selbst. Nicht weil wir müssen – sondern weil wir es wollen. Es ist uns wichtig, diesen Geist zu bewahren.“

Text: Will Richards