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Nick Cave: Neues Album „Ghosteen“ – Fakten, Stream und Kritik

„Ghosteen“ ist der Nachfolger des Traueralbums „Skeleton Tree“ aus dem Jahr 2016. Haben Nick Cave And The Bad Seeds ein neues Meisterwerk aufgenommen?

Nick Cave: „Ghosteen“ – Kritik ****1/2

Natürlich ist das persönliche Schicksal des Sängers immer noch am Horizont zu spüren. Aber zum Unfalltod seines Sohnes Arthur im Jahr 2016, der die Aufnahmen von „Skeleton Tree“ prägte, sagte Cave zuletzt, er habe ihn dazu gebracht, „Menschen auf eine andere Weise zu sehen“, was ihm „ein tiefes Mitgefühl für andere Menschen und ein absolutes Verständnis ihres Leidens“ verschafft habe.

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Es stimmt: Songs wie „Waiting For You“ sind von einer Empathie und Offenheit getragen, die Cave bei aller Hinwendung zu Religion und Mythos bisher noch nicht in seinen scheppernden wie leisen Liedern übermitteln konnte. Die geisterhaften Frauenchöre aus „Skeleton Tree“ sind genauso zurück wie jene elektromagnetischen Soundflächen, die auf Stücken wie „Magneto“ eine andere, eine längst ins Land der Träume übergegangene Zeit aufrufen.

Der eröffnende „Spinning Song“ erinnert mit seinen einfach so ins Ungewisse tröpfelnden Synthesizerklängen an eine gedimmte Variante von Space-Rock. Man stellt sich ein Blick ins All vor, vorbeifliegende Kometen, glitzernde Sterne in der Ferne. Und plötzlich erscheint, wie in einem verödeten MTV-Video der 80er, als Überblendung das Gesicht von Nick Cave, der die Augen öffnet und singt:

Once there was a song, the song yearned to be sung
It was a spinning song about the king of rock ’n‘ roll
The king was first a young prince, the prince was the best
With his black jelly hair he crashed onto a stage in Vegas

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Archaische Worte, wie sie Nick Cave schon seit „Your Funeral, My Trial“ wählt, um den Hörer in eine apokalyptische Wüstenlandschaft zu zerren oder eben in einen Zauberwald mit Flamingos, Schafen, Löwen und weißen Pferden. Dann ein Schuss mit einem Pfeil ins Herz. Vollendeter Kitsch, nur dass das Grauen der „Murder Ballads“ und Kylie Minogue als Wasserleiche hier weit entfernt sind. Im Weltraum hört dich niemand schreien. Vieles auf „Ghosteen“ ist erstaunlich schwerelos, auf „Galleon Ship“ wispern Gespenster. Ein Schlagzeug gibt es praktisch nicht. Warren Ellis musste seine Teufelsgeige wegpacken. Vielleicht spielte er am Laptop herum und brachte auch ein paar Samples mit, etwa Tracks von Richard Pinhas?

Cave bleibt rätselhaft: Was will das Cover-Artwork? Eine Darstellung wie von den Zeugen Jehovas, betont märchenhaft ohne Sinn, ohne tragfähige Symbolik. Die ersten Songs sind die Kinder, jene auf der zweiten Seite sind ihre Eltern. Tatsächlich ist „Ghosteen“ eher so etwas wie die große Schwester von „Skeleton Tree“. Vieles, was dort angedeutet wurde, wird hier fortgesetzt – Lärm und Emotionsausbrüche bleiben aber aus. Cave haucht und singt über mal unheimlichen, mal ätherischen Klangteppichen. Er gibt den Las-Vegas-Elvis und holt sich Vangelis zur Hilfe (vor allem im enigmatischen Titelstück, das nicht ohne Gedanken an „Blade Runner“ gehört werden kann und dann sogar einen seltsamen Ausfallschritt in Richtung „Everything Now“ von Aracde Fire macht, bevor Cave pathetisch und deutlich wird).

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Im „Spinning Song“ erreicht er sogar eine Stimmhöhe, die er sich in den 80ern nicht getraut hätte. Das Knurrige und Knarzige der Vergangenheit kommt nicht einmal mehr am Rande vor. Einmal wird es dann doch schrecklich düster: „Sun Forrest“ antizipiert schlaflose Nächte und einen Höllensturm mit brennenden Bäumen und erhängten Leichen. Wirklich dunkel wird es dann aber erst auf der zweiten Seite, mit jenen überlangen Tracks, die für den Sänger „erwachsen“ sind. Hier heißt es dennoch hoffnungsfroh: „I’m waiting for peace to come.” Möglicherweise Fluchtfantasien für Menschen, denen das Erdenschicksal zu viel geworden ist.

„O Children“, könnte man sagen, um einen der großartigsten Songs Caves aus einer Zeit zu zitieren, die nun als eine überwundene Phase im Werk dieses Schwermutskünstlers gennant werden darf, und käme zu der Erkenntnis, dass sie – wenn denn die Songs auf der ersten Hälfte den Kindern gehören, ihnen großzügig Gehör verschaffen – mit ihren hellen, gar kosmischen Hymnen an die Nacht am ehesten die Zweifel und Schattenkreaturen vertreiben können, die unter dem Bett lauern.

Von „Skeleton Tree“ erwartete man, dass diese Songs Trauer und Entsetzen in eine musikalische Sprache übersetzen, also von Verlust handeln. Cave hatte in Wahrheit etwas anderes im Sinn. Er betonte die Ahnung des Verlustes vor dem katastrophalen Ereignis. Vielleicht ist „Ghosteen“ nun die Übergabe dieser Trauer, die mehr als nur einen Grund hat, an eine Welt außerhalb von Raum und Zeit. Eine Ruinenwelt der verwünschten und verdrängten Gedanken und Gefühle, die aber, wenn sie denn ihren Weg zurück aus dem Geisterreich ins Diesseits fänden, Erlösung und Befreiung bringen könnten.

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