Parole Brandi: Sing When You’re Ruling (Wie im alten Rom)

Unsere Kolumnistin hat eine zündende Idee: Politiker:innen sollten sich an Kaiser Nero orientieren.

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Empfehlungen der Redaktion

Wenn mensch bei Google eingibt „Wie oft denken Männer“ und dann auf die Leertaste drückt, kommen folgende Vorschläge:

an ihre affäre

an frauen

Und direkt dahinter kommt auch schon:

ans römische reich

und Jungs, ich verstehe euch.

Das Römische Reich ist irgendwie ein guter Referenzpunkt, ein fiktiver safe space, in den mensch sich gerne im Geiste versetzt. Da gab es noch kein Plastik, aber schon Abwassersysteme, leider Gottes zwar noch keine Brandschutzversicherung, aber dafür schon richtig gutes Gebäck und außerdem Graffiti, sogar Fankult (#gladiator), mehrstöckige Wohnhäuser, großflächig mediterranes Klima und natürlich „Brot und Spiele“. Wobei es bei letztgenanntem nochmal ganz anders zur Sache ging als heutzutage auf dem Fußballplatz, wo es ja (hoffentlich) eher selten vorkommt, dass jemand aufgrund von schlechter Leistung den Löwen zum Fraß vorgeworfen wird.

Vieles am Interesse von speziell Männern an speziell dem Römischen Reich lässt sich zumindest teilweise auf männlich sozialisierte Eigenschaften zurückführen. Das Römische Reich war die erste große Erfolgsgeschichte der Männlich-, äh, Menschheit, die die ersten Kaiser hervorbrachte. Nicht erst zu reden von den politischen Machtkämpfen, Intrigen und Morden, mit denen das Reich erst so unheimlich groß wurde.

Zivilisation für Anfänger:innen

Außerdem ist das heutige Rom wie ein stadtförmiges Freilichtmuseum für so vieles aus jenen fernen Zeiten, was da noch herumsteht. Es schwindelt einen, wenn wir uns einmal klar machen, vor was wir da stehen und was diese verblassten, vom Zahn der Zeit angefressenen, alten Gemäuer einmal gewesen sein müssen, als noch der „Pax Romana“, der „Römische Friede“ herrschte. Der natürlich kein Frieden war so wie wir ihn uns heute vorstellen. Aber der Wein, den es damals gab, war ja auch kein Wein, wie wir den uns heute vorstellen.

Überhaupt glaube ich, dass diese Ursuppenversion von vielem, was wir im „Westen“ heute „Zivilisation“ nennen nach wie vor unsere Fantasie anregt, weil die Dinge damals noch nicht perfekt sein mussten, nur schonmal „da“. Wie eine erste Versuchsanordnung. Regierungsformen wurden ausprobiert, genauso wie Baumaterialien, Kochrezepte, Kleidungsstile und sexuelle Praktiken. Der Senat probierte (innerhalb der strengen Aristokratie) erste demokratische Elemente aus, Sklaven konnten, wenn sie sich gut benahmen, sogar durch ein paar geschickte Moves (vielleicht einem Angehörigen ihres Herren das Leben retten oder so) zu mündigen Bürgern werden. Und selbstverständlich wurde das Römische Reich vor allem durch seinen regen Handel mit Gebieten wie Ägypten, Sizilien, Spanien, dem Balkan oder Gallien erst zu dem, was wir heute darunter verstehen. Nämlich zu einer Großmacht.

Dazu kam noch, dass die Menschen zusammen öffentlich lebten, sehr gedrängelt, sehr anstrengend, wahrscheinlich. Es gab Toilettenhäuser, in denen Wildfremde nebeneinander auf etwas saßen, woraus wir später vielleicht nur noch die Schweine füttern würden, um darin ein Geschäft zu verrichten. Schrecklicherweise teilten sich im Anschluss an jenes Geschäft alle wahrscheinlich denselben auf einem Stiel befestigten Abwischschwamm, der zum Saubermachen nur kurz in ein Becken mit Essig getunkt wurde.

Wie ihr seht, alles nicht ganz ausgereift, aber die heutige Welt war in ihren Strukturen schon erkennbar.

Anthropologie für Anfänger:innen

Ich ganz persönlich finde diese Dinge alle schon ganz interessant. Aber – um ehrlich zu sein – eher zweitrangig. Als Hobby-Philosophin/Anthropologin beschäftigt mich viel eher die Frage, ob wir Menschen uns in unserem Wesen seit dieser Zeit kurz vor und kurz nach Christi Geburt eigentlich grundlegend verändert haben – oder eben nicht.

Keine Angst, mir ist bewusst, dass dieses Format hier nicht der richtige Ort ist, um derlei profunde Fragen hinreichend zu erörtern.

Aber an einem interessanten Beispiel möchte ich verdeutlichen, dass wir uns zeitlebens alles mögliche zusammenreimen und sicher von vielem mehr oder weniger gesichert ausgehen können, aber immer noch allzu viel unkritisch von den Behauptungen unseren Vorgänger:innen übernehmen.

Nero – nicht das beste Image

Kaiser Nero zum Beispiel. Der galt lange als eine Art monströser Tyrann, als ein schier wahnsinniger, geltungssüchtiger, gewaltbereiter Herrscher, der vor nichts zurückschreckte und nach und nach alles aus den Angeln hob, was das politische System seiner Zeit ausmachte. Das drängt doch Parallelen zu einigen Akteuren auf, die aktuell auf diesem Erdball ihr Unwesen treiben.

Aber die Erzählungen gehen noch weiter:

Von Nero wird berichtet, dass er seine eigene Mutter umgebracht haben soll. Dass er seine schwangere Frau mit einem Tritt in den Bauch getötet und dass er letztlich Rom höchstpersönlich angezündet habe, um Platz zu schaffen für seinen Superpalast, das „Domus Aurea“, das „goldene Haus“. Äußerst unterhaltsam manifestiert hat sich dieses schräge Bild durch die eindrucksvolle und sehr komische Darstellung Neros durch Sir Peter Ustinov in dem Film „Quo Vadis“. Ustinov ist als Comic Character Nero ganz klar der eigentliche Star des Films. Außerdem soll Nero selbst ja die erste Christenverfolgung angezettelt haben, was sich als Story natürlich gut erzählt hat über zwei Jahrtausende, wir armen Christen, wir.

Nero – die ganze Wahrheit

Nach und nach kommen seit einiger Zeit allerdings berechtigte Zweifel an dieser Lesart des wahnsinnigen Kaisers ans Licht.

Hier ein paar der neuesten Relativierungen:

Rom hat zu diesen Zeiten quasi jeden Tag irgendwo gebrannt. Der Häuserbau war ein eher schlampiges Unterfangen, wenig Stein, dafür viel Holz und nacktes, unbehandeltes Holz. Bei römischen Temperaturen trocknete das bald zu einer Art wandförmigem Grillanzünder aus. Das unbeabsichtigte Umstoßen einer Öllampe wird genügt haben, um halbe Stadtviertel abzufackeln.

Es ist wohl so, dass Nero zu der Zeit, als der große Brand (übrigens unweit seines Palastes) ausbrach, nicht in Rom war, sondern auf irgendeinem Landanwesen. Aber er sei laut neuster Erkenntnisse schnellstmöglich zurückgekehrt und habe die Gärten seines Palastes für die Bürger:innen geöffnet und sie zum Beispiel mit Getreidevorräten und Lebensmitteln notdürftig versorgt. Außerdem hat Nero selbst nach dem Großbrand angeordnet, dass gesetzlich ab jetzt sehr viel mehr Stein beim Häuserbau verwendet werden musste, was eine gute, nachhaltige Idee war.

Marketing und Muttermörder

Und das mit den Christen, ja nun, es war eine notwendige Marketing-Strategie, jemandem den Scheiß in die Schuhe zu schieben, weil Nero zu diesem Zeitpunkt bereits im Ansehen der Eliten ziemlich weit nach unten gerutscht war. Und die brachten auch das Volk gegen den exzentrischen Kaiser auf. Mit dem Verbrennen von ein paar Spinnern, die erzählten, dass sie Jesus’ Körper essen und sein Blut trinken würden, konnte Nero ein prima Exempel statuieren und außerdem die angeblichen „Sündenböcke“ für den Brand Roms vor den Augen des rachsüchtigen Volkes bestrafen. Danach war dann wohl erstmal kurzzeitig auch Ruhe im Karton.

Ok, na gut, seine Mutter mag er umgebracht haben, aber die wollte ihm auch an die Wäsche. Und das war nun mal zu der Zeit die Art und Weise, wie Politiker aufeinander reagiert haben, da musste er halt schneller sein als seine Mom. Angeblich hatte er aber auch ziemlich schlimme Albträume nach dieser Aktion.

Nero – der Performing Artist

Was mich an der Figur Neros natürlich am meisten beschäftigt, ist der eigentliche Funke, mit dem er den Hass gegen sich in seinem Umfeld, ob Senat oder Pöbel, entzündet hat: Er sah sich selbst als Künstler, nein, nicht nur als Künstler, als Star. Er spielte Gitarre (oder einen Vorläufer davon), sang und tat sich als Schauspieler hervor, irgendwann sogar vor Publikum. Das war für Nero seine wahre Identität, seine Erfüllung, sein „purpose“.

Ich meine, wie schlecht war denn die Stellung von Künstler:innen, und wie bewusst war den Eliten ihr eigener Ekel vor diesen minderwertigen Gauklern, dass sie aus Nero einen Psychopathen machen mussten? Ich verstehe das nicht. Hätte es nicht gereicht, ihn als Musiker, bzw. „Performer“ (als der sich Nero wohl zu Lebzeiten bezeichnet hätte) fertig zu machen? Warum brauchten Politiker und Geschichtsschreiber wie Tacitus eine „Bestie in Menschengestalt“? Wahrscheinlich deshalb, weil die Wahrheit einfach zu uneindeutig und damit zu beunruhigend für die Menschen war.

Wir müssen uns natürlich auch klar machen, dass sich im alten Rom jeder Mensch seinem Stand gemäß verhalten musste, klar. Andererseits ist es ein Zeichen der unendlichen menschlichen Ambiguität, dass sowas wie Adoption ausreichte, um einen zum Kaiser zu machen. Man denke nur an Augustus, Adoptivsohn von Caesar, der der erste römische Kaiser wurde, ziemlich progressiv eigentlich und für Adoptivkinder ziemlich cool. Aber bei Kunst, da hört der Spaß nun wirklich auf, das schickte sich einfach nicht.

Von der Kunst in den Wahnsinn

Der alte Satz stimmt wirklich: „Die Welt besteht nicht aus Atomen, sie besteht aus Geschichten.“ Der Mensch findet eine Fantasie für alles, was er will. Mit purer Logik kommen wir da nicht weit. Und das, finde ich, hat sich über einen Zeitraum von zweitausend Jahren nicht wirklich geändert. Wenn wir einen Feind brauchen, berufen wir uns auf die Geschichten, die rund um diese Person entstehen und diese Geschichten sind tief verwurzelt in Sprache, Kultur und Geschichte.

Halten wir also fest: Herrschende waren schon immer brutal, das ist Teil der Story. Sie waren auch schon immer selbstverliebt. Man denke nur an Caesar, der sich feiern ließ, obwohl er zwar noch kein offizieller römischer Kaiser war, sondern „nur“ „Diktator auf Lebenszeit“. Aber er hat den Personenkult begründet und dem Wort „Kaiser“ seinen etymologischen Ursprung verliehen. Herrschende waren schon immer exzentrische Diven, man denke nur an Caligula, der es nur vier Jahre an der Spitze schaffte, weil er original sein Pferd zum Konsul machen wollte und sich selbst als Gott verehren ließ.

Aber nur einer aus dieser Reihe erzählt uns die Geschichte vom verkannten Künstler und das ist Nero.

Leider hat Nero das harte Gedisstwerden nicht gerade gut getan. Nach dem Motto „dann werde ich eben, was sie in mir sehen“, ließ er sich am Ende seiner Amtszeit eine dreißig Meter hohe Statue von sich selber errichten. Und eben jenes berühmte „goldene Haus“, welches ich unbedingt mal in Rom besichtigen will. Es befindet sich unter dem Kolosseum, und ich habe mit meinem Erbsenhirn bis heute nicht verstehen können, wie Gebäude (auch noch von solcher Größe) es als Ganzes bis unter die Erde schaffen. Aber ich werde beizeiten eine Archäologin danach fragen.

Künstler-Ego und politische Größenwahn

Nero mutierte jedenfalls zu ziemlich genau dem Jeff Bezos-esken Clown, als der er zeitlebens gesehen wurde. Er ließ sich sein blühendes Genie nicht länger unter den Scheffel stellen, Star, der er war. Er zog sogar ganz kurz durch die Lande als, jawohl, als Musiker und als Schauspieler. Und als er wieder zu Hause in Rom war, wanderte er durch seinen 100 Hektar Palast und sagte (das ist anscheinend gesichert überliefert): „Endlich mal ein Haus, in dem man es als Mensch wenigstens ei-ni-ger-ma-ßen aushalten kann“.

Ich glaube, dass ein unterdrücktes Künstler-Ego und politischer Größenwahn sich noch nie sonderlich gut miteinander vertragen haben. Bemerkenswerterweise war das Volk lange Zeit schlauer als der Senat und fand Nero im Grunde ziemlich fresh, wenn auch nicht eindeutig ist, ob es ihn als Künstler wirklich schätzte oder doch eher belächelte.

Irgendwann war klar, dass er umgebracht werden würde. Auf die dem alten Rom eigene bestialische Art und Weise. Und da hat er sich lieber vorher selbst erdolcht.

Wie gut war Nero?

Es ist mal wieder schade, dass das alles knapp zweitausend Jahre vor den ersten Film- und Audioaufnahmen stattfand. Ich hätte nämlich zu gerne gewusst, ob Nero als Künstler etwas getaugt hat.

Aus den damaligen Graffiti, die die Leute an die Häuserwände geritzt haben, ging hervor, dass er im Volk einen gewissen Eindruck hinterlassen haben muss. „Nero imperator cantavit hic“ stand da zu lesen. Was soviel heißt wie: „Nero, der Kaiser, hat hier gesungen“.

Kann natürlich auch sein, dass dieser Kommentar dieselbe feine Ironie enthält, welche Florence Foster Jenkins zu eigen war, als sie sprach: „People may say I can’t sing, but no none can ever say I didn’t sing.“

So oder so: Ich bin für mehr singende Imperialist:innen, denn erst durch das Singen macht sich der Mensch wahrhaft verletzlich. Das gilt, glaube ich, unabhängig vom Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit. Hätte Nero sich im gesamten Römischen Reich eine fette Tour gebucht, wer weiß, dann hätten die Publikumsreaktionen ihn vielleicht noch rechtzeitig auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt … In diesem Sinne: Qui cantat, verum dicit.

Charlotte Brandi schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.