Pathos, Pop und Kohle

Unter Kritikern und Kollegen gut Ralf Rothmann seit seiner Schilderung einer Ruhrgebietsjugend als einer der besten deutschen Erzähler seiner Generation

Ralf Rothmann wohnt in Berlin-Friedrichshagen. Das sandfarbene, mit seinen hellen Fensterläden leicht mediterran anmutende Reihenhaus passt ganz gut hinein in diesen verschwitzten Sommertag. Die anliegenden Stadtvillen, Reihen- und höchstens einstöckigen Mietshäuser sind frisch renoviert, das Kopfsteinpflaster wirkt wie kürzlich gelegt, gepflegter alter Baumbestand spendet Schatten und versprüht Alleencharme. Rothmann begrüßt mich herzlich, führt durch die Wohnung auf die Terrasse, von der man einen guten Blick hat über das Viertel. .Alles selbst erschrieben?‘ „Gott bewahre“, lacht er. „Aber Sie sind doch Bestsellerautor.“ – „Jaja klar.“ Ralf Rothmann hat bei Lesern und Kritikern gleichermaßen einen guten Stand, häuft Literaturpreise und verkauft auch noch gut. Er kann sich seine ruhige Souveränität leisten.

Er hat mit Lyrik debütiert, die gern als „Neue Innerlichkeit“ diskreditiert wurde. „Kratzer“ (1984) wird überall gut besprochen und bringt ihm nachträglich einen Deal mit Suhrkamp ein, dem Verlag, dem er bis heute die Treue hält. Hier erscheint denn auch seine Ruhrpott-Romantrilogie – „Stier“ (1991), „Wäldernacht“ (1994) und „Milch und Kohle“ (2000) —, die ihn bekannt, die ihn zum Schulbuchautor gemacht hat und die er 2004 mit „Junges Licht“ zur Tetralogie erweitert. Elegische Adoleszenzromane sind das, die der verlorenen Kindheit und Jugend ein paar Tränen hinterherweinen und zugleich nachzittern vor Empörung und Empathie mit seinen juvenilen Helden, die sich in diesem autoritären, gewalttätigen, desolaten Ruhrpott-Soziotop der 50er und 60er Jahre behaupten müssen. „Hunger, Durst und Geilheit“, sagt der Ich-Erzähler in „Stier“, „das war die Skala der Gefühle, Zwischentöne gehörten in die Hitparade.“

Nur mit großen Mühen und Schmerzen können sie sich emanzipieren — meistens mithilfe der Kunst, wie der Autor selbst. „Ich kann nur über die Dinge schreiben, die ich erfahren habe“, räumt Rothmann freimütig ein. „Ich kann nichts erfinden, oder wenn, dann immer ganz nah dran am wirklich Erlebten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Sprache mich selbst nicht befriedigt, wenn ich was erfinde, dass ihr eine gewisse Schwerkraft fehlt, eine gewisse Erdung.“

Und einem Berlin-Buch wie „Flieh, mein Freund“ merkt man die fehlende Erfahrungsfülle auch an. Hier muss er seinen Stoff mit Kolportage-Elemente andicken, einer abenteuerlichen Mexiko-Reise, Drogenschmuggel etc. Das liest sich spannend, und das was Rothmanns Kunst ausmacht – plastische Figurenzeichnungen; Dialoge, die nicht klüger sind als das Leben; und eine Sprache, die sich nicht vor die Dinge stellt, sondern sie passgenau umschließt -, findet man hier auch immer noch. Aber es wirkt ausgedacht, während man seinem Ruhrpott-Zyklus noch in jeder Zeile sieht, dass sie hart am eigenen Leidens-Oszillogramm entlanggeschrieben ist.

Rothmanns Sozialisation darf man als „nicht gerade typisch“ für einen Schriftsteller bezeichnen. „Das fängt damit an, dass ich eine ganz normale Volksschule besucht und dann eine Maurerlehre gemacht habe. Bezeichnenderweise habe ich über meine Jugendzeit erst schreiben können, als ich in Berlin war, da war ich schon 23. Das war sicher eine traumatisierende Zeit, denn mein ganzes Umfeld war geprägt von Gewalt, aber auch einer ständigen Geldnot, und das hat per se schon, auch in der Familie, so eine aggressive Grundstimmung mit sich gebracht. In diesem Umfeld heranzuwachsen, und dann möglicherweise auch noch als ein etwas sensibleres Kind heranzuwachsen und noch dazu, was völlig abwegig war, Interesse für Bücher zu haben, da hatte man schon das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Und auf Außenseitern wird traditionell herumgeprügelt, insofern musste meine Kindheit und Jugend wahrscheinlich etwas Traumatisierendes haben. Das Schreiben war sicher auch ein psychohygienischer Akt.“

Angefixt von der Musik der Sechziger, den „Hymnen zum Aufbruch“, hat er zunächst begonnen, Songtexte zu schreiben.

„Die Rock- und Pop-Musik war damals für mich schon so etwas wie eine ästhetische Schule. Mein heutiges rhythmisches Empfinden als Schriftsteller, mein Empfinden für die klangliche Logik der Sprache, das habe ich alles aus der Zeit.“

Er fand in Berlin Anschluss an die literarischen Kreise, die Lyriker Christoph Meckel und Jürgen Theobaldy wurden so etwas wie Lehrer- und Leitfiguren. Dann der Wechsel zur Prosa. Warum eigentlich?

„Ich wollte in einen Arbeitszusammenhang hinein. Die Gedichte, die habe ich immer geschrieben nach zwei Flaschen Wein auf dem Zeitungsrand, aber Prosa, da braucht man eben nicht nur Flausen, sondern auch Sitzfleisch. Und dieser Arbeitszusammenhang stellte sich dann auch schnell her. Dadurch dass ich in verschiedenen Berufen gearbeitet habe, also im sogenannten Arbeitsalltag gewesen bin, habe ich auch keine Schwierigkeiten mit dieser Konsequenz. Ich war es immer gewohnt, jeden Tag zu arbeiten, bis heute.“

„Stier“ kann man noch den gewesenen Lyriker anlesen. Es ist aperfuhafter, aphoristischer, während seine späteren Bücher eher durch sprachliche Ökonomie und Lakonie bestechen. Rothmann nickt. „Beim Epischen kommt es letztlich auch gar nicht so sehr darauf an, was man sagt, sondern eher, was man nicht sagt. Der Raum in einer Prosa entsteht eigentlich erst durch das Nichtgesagte, das aber natürlich trotzdem präsent sein, trotzdem mitschwingen muss. Ich glaube, es ist ganz einfach. Wenn Sie den Satz schreiben: ,Das Zimmer war unaufgeräumt.‘ Dann ist das kein literarischer Satz, es ist eine grobe Beschreibung, vor allem aber ist es eine Meinung, denn das, was Sie für unaufgeräumt halten, muss ja ich nicht dafür halten. Wenn Sie aber das Zimmer so beschreiben, dass der Leser sagt ,Mann, was ist das für ein Saustall‘, dann haben Sie Literatur gemacht. Das ist der große Unterschied. Und das kann man viel besser erreichen, wenn man Dinge weglässt, dann wird der Leser nämlich automatisch miteinbezogen, dann ist Lesen auch ein schöpferischer Prozess. Und ich glaube, das ist das, woran die deutsche Literatur oftmals krankt, der Deutsche in seiner Gründlichkeit will immer ganz genau, ganz minutiös, er will immer alles benennen, und dadurch quasselt er seinen Gegenstand tot.“

Rothmann bezeichnet sich selbst als „altertümlichen Schriftsteller“, und er ist einer im emphatischen Sinn, dem der neue Autorentypus, der „nur noch von Event zu Event hopst“, mehr als suspekt ist. „Ich glaube, dass die innerste Wahrheit ihres Tuns damit beschädigt wird. Poesie bleibt eine Sache zwischen einem Einzelnen und dem Absoluten, so pathetisch das klingt. Sie stellen keinen Text her, der ans Herz geht oder das Herz hebt, wenn Sie permanent auf irgendwelchen Empfängen herumstehen.“

So kann nur jemand reden, der im Schreiben sein Heil gesucht und gefunden hat. Rothmann nimmt man dieses Pathos ab. Ohne die Literatur wäre er jetzt vielleicht Polier und hätte alle Hände voll zu tun, in Oberhausen und Umgebung die Bergschäden am Putz der Häuser auszubessern.

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