Michael Winterbottom :: Die Augen des Engels

Zwei Monate nach dem Freispruch von Amanda Knox widmet sich ein Film der Rolle der Medien

Mit seinem einst revolutionären Ausspruch „Film ist 24-mal Wahrheit pro Sekunde“ hat der französische Regisseur Jean-Luc Godard eine steile These aufgestellt, denn schließlich präsentiert sich das Kino ja bewusst als Illusion, die lediglich den Anspruch erhebt, echt zu sein. Daher galt lange Zeit, grob gesprochen, die Faustregel: Kinobilder sind Fiktion, Nachrichtenbilder sind Realität. Doch spätestens mit der Digitalisierung kam die Dialektik: Zum einen hat sich bei den nichtfiktionalen Medien eine Dominanz des Bildes gegenüber der Realität herausgebildet, Ereignisse ohne Abbild finden heute nicht mehr statt, Bilder dienen als Beweis. Zum anderen werden Bilder mittlerweile oftmals kritisch hinterfragt: als möglicherweise manipuliert (wie das Paradebeispiel von Jan Böhmermanns #Varoufake vor nicht allzu langer Zeit wieder zeigte) oder als manipulativ (wie die Diskussion um das Unwort des Jahres 2014, „Lügenpresse“, offenbarte). Die Rezeption von Bildern schwankt demnach zwischen Skepsis und dem tiefen Wunsch nach „Wahrheit“. Mit seinem Film „Die Augen des Engels“ schwingt sich der britische Regisseur Michael Winterbottom auf zu einem Diskurs über Kino, Medien und der Suche nach der Wahrheit.

Ausgangspunkt ist der noch immer ungeklärte Mord an der britischen Studentin Meredith Kercher im italienischen Perugia im November 2007. Der kontroverse Fall und die mit ihm befassten Gerichtsprozesse ziehen sich bereits über Jahre hin, eine der Beschuldigten war die damals 20 Jahre alte Amerikanerin Amanda Knox, die ihrer Attraktivität und ihrer strahlend blauen Augen wegen einen Großteil der (Medien-)Aufmerksamkeit auf sich zog. Ende 2009 wurde sie wegen Mordes und sexueller Gewalt zu 26 Jahren Haft verurteilt, 2011 freigesprochen, im Januar 2014 wieder verurteilt und Ende März dieses Jahres schließlich in letzter Intanz endgültig freigesprochen.

„Die Augen des Engels“ orientiert sich zwar an den Fakten des realen Falls, ist aber keineswegs ein Krimi oder gar eine Rekonstruktion des Tathergangs. Vielmehr versucht er mit einer selbstreflexiven Herangehensweise ein umfassenderes Bild zu schaffen. Protagonist ist der junge deutsche Regisseur Thomas (Daniel Brühl), der in den kleinen italienischen Ort fährt, um dort mit der Journalistin Simone (Kate Beckinsale) über die Verfilmung ihres Buches über das Verbrechen zu sprechen. Bei seinen Recherchen trifft er die Studentin Melanie (Cara Delevingne) und den Blogger Edoardo (Valerio Mastandrea), der behauptet, die Wahrheit zu kennen. Doch je mehr Thomas sich mit dem Fall beschäftigt, desto mehr verliert er sich selbst.

Winterbottom, der 2006 in seinem Doku-Drama „The Road To Guantanamo“ das reale Schicksal dreier britischer Muslime authentisch nachgezeichnet hatte, nähert sich diesmal den Geschehnissen auf der Metaebene an. Im Mittelpunkt steht dabei der unterschiedliche Umgang mit der Tragödie. In welchem moralischen Dilemma stecken die Leute, die über das Ereignis berichten? Die Journalisten spielen insofern eine besondere Rolle, als viele Korrespondenten lange Zeit vor Ort waren und einen eigenen Mikrokosmos bildeten, der selbst wiederum Teil der Geschichte wurde. Viele Szenen beruhen daher auf Situationen, die das Team während der Vorarbeiten erlebte.

Zum anderen gibt es den Regisseur Thomas, der sich fragt, ob man sich einer solchen Tat künstlerisch nähern kann, und wenn ja, wie, was letztlich auch die Frage nach der Legitimität von Winterbottoms Methode aufwirft. Doch gerade weil der Film auf Abstand geht und beobachtet, wie sich die komplexen Geschichten entspinnen, wie Hypothesen miteinander verwoben werden und sich eigene Urteile manifestieren oder ins Wanken geraten, funktioniert diese künstlerische Auseinandersetzung.
Der Film ist ein Versuch, den Grund für den unglaublichen Medienrummel zu finden und die seltsame Faszination für Gewaltverbrechen und die Gier nach jedem noch so kleinen Detail zu hinterfragen. Winterbottom nimmt sich dabei die Freiheit, Fakten und Fiktion kollidieren zu lassen. So schafft er mitunter Momente, die so dokumentarisch wirken, als wäre man tatsächlich der Lösung auf der Spur, nur um dann zum Leben erwachte Wasserspeier seinen Helden durch dunkle Gassen jagen zu lassen und dem Zuschauer so die Fiktionalität in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen.

Anders als bei Miss Marple fragt „Die Augen des Engels“ nicht, wer der Täter war, sondern, was diese Tat bedeutet. Den Anspruch, die Wahrheit zu kennen, erhebt er dabei an keiner Stelle. Denn, wie Michael Haneke einmal sagte: „Film, das ist 24-mal Lüge pro Sekunde.“

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