Die Nerven

„Wir waren hier“ – Die Risse dieser Welt

Glitterhouse (VÖ: 13.9.)

Vom Glück des Vorbeiseins: Dystopischer Noise-Rock aus Stuttgart.

Wenn das letzte Liebeslied verhallt ist, es nichts mehr am Selbst zu optimieren gibt und alle Insta-Storys gepostet sind, wenn die alten weißen Männer an den Hebeln der Macht die Welt endlich kaputt gekriegt haben, wird das Ende zum Sehn­suchtsort. Die Nerven stehen mit „Wir waren hier“, dem Titelsong ihres sechsten Albums, in der Tradition von Pop-Apokalyptikern wie R.E.M., Konstantin Gropper, Peter Gabriel oder Fa­ther John Misty, die mal fröhlich, mal wehmütig, mal stoisch auf das bevorstehende Ende warten. Max Rieger singt: „Wir haben uns verewigt in den Rissen dieser Welt“, lässt seine Gitarre zu Julian Knoths knurrigem Bass und Kevin Kuhns störrischem Schlagzeug herumzappeln, wird sich später zu einem Black-­Sabbath-­Riff auf die Sintflut freuen, die kommt, nachdem wir alles aufgefressen und jede Form von Verantwortungsbewusstsein und Menschlichkeit abgelegt haben: „Wirf den Castor zu den Wellen und die Körper auch!“

Und überall lauert das Ende

Es dürfte Zufall sein, dass dieser dystopische Noise-Rock-­Abgesang auf unseren turbokapitalistischen Gefräßigkeitsmotor den gleichen Titel trägt wie eine Genieße-das-Leben-solange-die-Welt-sich-noch-dreht-Hymne von Cro, der wie Die Nerven aus Stuttgart kommt. Doch das macht noch deutlicher, wie dringend wir diese Band brauchen. Die Songs auf „Wir waren hier“ oszillieren erschütternd präzise zwischen Trotz, Resignation und Wut, zwischen Noise-Rock und Post-Punk, New Wave und Indie-Pop, zwischen Ador­no und Toco­tro­nic: Kapitulation jetzt! Mal geht es ums Nicht­­voran­kom­men („Schritt für Schritt zurück“), mal da­rum, die Angst auszuhalten („Dis­rup­tion“). Und überall lauert das Ende: Während „Als ich davonlief“ eine mit fieser Kunstpause beginnende Hymne auf die Weltflucht ist, tanzt „Das Glas zerbricht und ich gleich mit“ den letzten Tanz auf dem Vulkan.

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­Knoth, der sich wie gewohnt am Mikro mit Rieger abwechselt, schreit in „Bis ans Meer“ zunächst lauter als die Wellen, gibt dann aber erschöpft auf. In „Ich will nicht mehr funktionieren“ verabschiedet Rieger sich von der Immer-­höher-­schneller-­besser-­Doktrin. Und dass selbst das Jungsein kein Grund ist, an dieser Welt zu hängen, verrät „Achtzehn“, eine mit einem Streichquartett endende Balladen-Kostbarkeit: „Ein Hoch auf die Jugend, zum Glück ist sie vorbei!“

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