Veronika Franz, Severin Fiala :: Ich seh, Ich seh
„Guten Abend, gut’ Nacht“ intoniert die nach außen heile und innen versehrte Bauernfamilie zu Beginn dieses Films. Es ist das Lieblingsschlaflied der unzertrennlichen Brüder Lukas und Elias, die ihre Sommerferien auf dem Land verbringen. Sie streunen durch die Maisfelder, dringen in die Tiefen der Wälder vor und lassen sich auf dem See treiben.
Die Idylle findet ein jähes Ende, als ihre Mutter auftaucht, das Gesicht von einem Verband verhüllt. Mit ihr zieht nicht familiäre Wärme, sondern misstrauische Kälte in das luxuriöse Domizil ein. Es dauert nicht lang, da bitten die Brüder aufgrund der bedrückenden Stimmung, die von der Frau ausgeht, erstmals Beweise, „dass du die Mama bist“. Diese bleiben natürlich aus, das Bitten wird zum Flehen und schließlich zur Forderung. Doch nichts passiert, weshalb der Widerstand der Jungs gegen diese Frau zu einem Akt der Selbstbehauptung wird. Bis die Situation eines Nachts kippt und die Brüder beginnen, die Frau zu quälen. Es entwickelt sich ein grauenvolles Spiel um Macht und Vertrauen, bei dem alle Grenzen der Zuordnung aufgehoben werden. Der von Ulrich Seidl produzierte Film führt in eine Poten-zialität schrankenlosen Grauens.
Der Grusel, der unter die Haut kriecht, entsteht in den Lücken, die die Handlung in die Wirklichkeit reißt. Etwa wenn die Mutter nackt durch den Wald läuft, wo sich ihr verbundenes Gesicht plötzlich in eine zappelnde Fratze verwandelt. Es ist nicht das einzige trivialkulturelle Zitat in „Ich seh, Ich seh“. So erinnert die Montage an Hans Weingärtners „Die Summe meiner einzelnen Teile“, die Maskerade der Mutter scheint sich an Pedro Almodóvars „Die Haut, in der ich wohne“ zu orientieren.
Dieses Meisterwerk des österreichischen Kinos kommt nah an Stephen Kings „The Shining“ heran. Speist sich dessen Grusel noch aus einer diffusen Angst, die ignoriert, dass der Horror der Wirklichkeit viel schwerer zu ertragen ist als alles, was wir uns in unserer Fantasie zurechtgelegt haben, kommt hier nun allerdings die Wirklichkeit.