Tipp: Enemy :: Regie: Denis Villeneuve
Man kennt die Geschichte von Narziss: Beim Baden in einer Quelle erblickt der schöne Jüngling sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche und verliebt sich unsterblich. Als er jedoch die Unmöglichkeit seiner Liebe erkennt, nimmt er sich in größter Verzweiflung das Leben. Heutzutage blickt der Narzisst für ein „ Selfie“ auf den Screen seines Mobiltelefons oder via Skype-Konferenz in die Kamera seines Laptops – und muss darin sein fahles Selbst erkennen. Adam Bell (Jake Gyllenhaal), Geschichtsprofessor und dermaßen uneingerichtet in seinem eigenen Leben, dass sogar die Mutter (Isabella Rossellini als liebesunfähiger Familiendrache) sich Sorgen zu machen beginnt, hat noch ein ganz anderes Problem mit dem Selbst. Er hat in einem Spielfilm zufällig einen Darsteller entdeckt, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht.
Zwangscharakter Adam, der sein reizarmes Leben (außer gelegentlichem Sex mit seiner Freundin scheint es kaum Annehmlichkeiten zu bieten) mehr schlecht als recht im Griff hat, entwickelt eine ungesunde Obsession für den mysteriösen Doppelgänger. Er macht dessen Namen und Adresse ausfindig, ruft ihn zu Hause an und fängt (ein nicht gekennzeichneter Schlüssel) seine Post ab. Als er Anthony, einen mittelprächtig erfolgreichen Schauspieler mit hochschwangerer Freundin (Sarah Gadon), schließlich zu einem persönlichen Treffen überreden kann, setzt bei ihm die schleichende Erkenntnis ein, dass er mit der Kontaktaufnahme eventuell die Büchse der Pandora geöffnet hat.
Der Frankokanadier Denis Villeneuve hatte im letzten Jahr mit dem starbesetzten Rachedrama „Prisoners“ (ebenfalls mit Gyllenhaal) bereits eine effektvolle Abhandlung über ein moralisches Paradox vorgelegt. Während „Prisoners“ aber noch weitgehend nach der vertrauten Genre-Mechanik des Thrillers funktionierte, die nach über zweieinhalb Stunden erwartungsgemäß die üblichen Ermüdungserscheinungen zeigte, betritt „Enemy“ mit seiner Adaption von José Saramagos Roman „Der Doppelgänger“ Cronenberg-Terrain. Villeneuve hat ein superbes Auge für Stadtarchitekturen, und er benutzt die Skyline von Toronto (ähnlich wie Spike Jonze die von Shanghai in „Her“) mit maximalem Effekt: als aseptisches, hier allerdings wenig lebenswertes Dystopia, in dem die Menschen, sofern sie überhaupt in Erscheinung treten, verlorene Existenzen verkörpern. Kameramann Nicolas Bolduc tastet die Benutzeroberfläche der Stadt aus extremen Blickwinkeln ab, er findet eine geometrische Schönheit, wo die Form längst von der Funktion entkoppelt ist.
Diese szenische Entleerung weist in Villeneuves „Enemy“ auf den inneren Konflikt Adams hin, der sich auf seinen Zwilling keinen Reim machen kann. Anthony ist sein komplettes Gegenteil: ein übertrieben selbstsicheres Alphatier, das sich mit Lederjacke und Motorrad in Pose wirft, dessen kühl durchdesigntes Apartment aber lediglich eine räumliche Erweiterung der städtischen Gleichförmigkeit ist. Diese unbehagliche Monotonie kontert Bolduc mit satten, gelbstichigen Bildern, die am ehesten an Luftverschmutzung oder Klimakatastrophe erinnern. Die Identitätskrise, die Adam langsam befällt, ist reif für ein solch paranoides Szenario. Zumal auch seine Mutter wenig Verständnis für die Hirngespinste ihres Sohnes zeigt: „Du solltest dir die Fantasie, ein drittklassiger Schauspieler zu sein, aus dem Kopf schlagen.“
Doch Anthony ist keine schizophrene Doppelung wie Brad Pitts Tyler Durden in „Fight Club“, auch wenn Villeneuve über diese Erkenntnis hinaus wenig Interesse an dem Rätsel zeigt. Die gemeinsame Operationsnarbe legt noch eine andere konspirative Fährte, die der Film ebenfalls ignoriert. Die gesellschaftlichen Zusammenhänge, auf die „Enemy“ mit seinen panoptischen Stadtansichten hinauswill, unterläuft Villeneuve durch leicht durchschaubare Horrorbilder, die eher Manifestationen des Unbewussten sind.
Das wiederkehrende Angstmotiv der Spinne, die Adam in seinen Albträumen heimsucht und einmal sogar über der Skyline lauert, entspringt einer individuellen Psychose, während „Enemy“ ästhetisch und diagnostisch eigentlich schon viel weiter gedacht ist. „Jede Diktatur“, erklärt Adam seinen Studenten, „hat eine Obsession: Kontrolle. Sie zensieren jede Form von Individualität.“ Villeneuve beschreibt in Form eines Mystery-Thrillers eine totalitäre Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Indoktrination nicht bewusst ist. Adam/Anthony sind ein glitch im System, doch dieses System wird sich am Ende als selbstheilend erweisen. In der rätselhaften Schlusseinstellung, die im Internet schon für reichlich Gesprächsstoff sorgte, verschmelzen Psychose und Paranoia zu einem unheilvollen Nachbild. Villeneuve mag kein George Orwell sein, aber seine Verschwörungsfantasien besitzen eine verstörende Eleganz.