Alexej Serebrjakow :: Leviathan

Ungeachtet aller Vorurteile über die russische Trinkfestigkeit: In Andrei Swjaginzews „Leviathan“ wird so viel Wodka gesoffen, dass man schon beim Zusehen Kopfschmerzen kriegt. Viel Abwechslung bekommen die Einwohner des kleinen Fischerdorfes am nördlichsten Ende Europas allerdings auch nicht geboten. Moskau ist weit entfernt, auch wenn im Büro des Bürgermeisters, der seine Verwaltungspflichten sehr großzügig auslegt, ein Putin-Porträt hängt. Man hat sich in einer Subsistenzökonomie eingerichtet, selbst die Justiz und die Polizei wirtschaften in die eigene Tasche. Die Korruption als niederste Form der politischen Kultur findet ihren Weg noch in die entlegensten Regionen. Der Ursprung allen Übels liegt natürlich in der Natur des Menschen. „Leviathan“ ist ein sehr russisches Drama über Macht, Gier und Eifersucht – und befindet sich damit absolut auf der Höhe der Zeit. In seiner Heimat musste Swjaginzew für seinen Film, der für den Auslands-Oscar nominiert ist, von Putins Cyber-Trollen und der orthodoxen Staatskirche schon mächtig Kritik einstecken. Im Westen stößt solche wohlfeile Polemik, erst recht wenn sie so episch fotografiert ist, natürlich auf ungeteilte Zustimmung.

„Leviathan“ erzählt die Geschichte eines modernen Hiob im Putin-Russland. Der arbeitslose Mechaniker Kolja kämpft vor Gericht gegen den Bürgermeister des Ortes, der ihn mithilfe des Gerichts zum Verkauf seines Elternhauses zwingen will, in dem er mit seinem Sohn aus erster Ehe und seiner Freundin, Lilia, lebt. Unterstützung bekommt Kolja aus Moskau. Sein Freund und Rechtsanwalt Dmitri hat einen Aktenordner im Gepäck, der Beweise für die illegalen Schweinereien des feisten Funktionärs enthält. Die letzte Anhörung, in der die Richterin ihr Urteil zum Einspruch gegen die Zwangsvollstreckung in einer brutal-funktionalistischen Verwaltungssprache verliest, entpuppt sich als Farce. In derselben Nacht erhält Kolja Besuch vom besoffenen Bürgermeister und dessen stiernackigen Schergen. Der Streit der temperamentvollen Alkoholiker ist ein Höhepunkt des Films, der an dieser Stelle selbst bereits ein leichtes Katergefühl hervorruft. Alkohol löst Hemmungen, doch bei aller Wodkaseligkeit fällt Swjaginzews Blick auf die russische Gesellschaft äußerst nüchtern aus. Bis die Bagger anrollen, um Koljas Haus zu planieren, zeichnet der Regisseur ein bitteres, stellenweise frustrierendes Szenario, das trotz der großen Entfernung zu den Schaltstellen der Macht ein wenig vorteilhaftes Licht auf das Land wirft.

Denn auch wenn Swjaginzew in einer Szene das Skelett eines Wals in einem ausgetrockneten Seitenbecken des Meeres als archaische Kulisse präsentiert, lässt er keinen Zweifel daran, dass der Titel seines Films nicht auf das mythische Ungeheuer, sondern auf Thomas Hobbes’ Schrift über das Staatswesen anspielt. Michail Kritschmans majestätische Bilder vom Rande der Welt suggerieren einen Naturzustand, in dem schon Hobbes die Anlagen für Gewalt und Gesetzlosigkeit erkannt hat. In „Leviathan“ sind auch die Beziehungen der Menschen vergiftet. Kolja ist ein tumber Dickschädel, der seine jüngere Frau zu einem Leben in der Einöde der russischen Tundra verdammt. Sein bester Freund, Pascha, arbeitet für die Polizei, sieht aber stillschweigend über die kleinen „Gefallen“ hinweg, die sein Vorgesetzter einfordert. Dmitri riskiert für Kolja zwar sein Leben, doch als sich abzeichnet, dass der Freund gegen die staatlichen Kräfte keine Chance hat, fällt er ihm ebenfalls in den Rücken. Der Kater, der sich einstellt, ist in „ Leviathan“ durchaus politisch zu verstehen, obwohl Politik nur einmal explizit thematisiert wird: beim angetrunkenen Zielschießen auf die Konterfeis ehemaliger Politiker (Nixon, Gorbatschow). „Für die aktuellen ist es zu früh“, bemerkt Pascha. „Lassen wir sie noch eine Weile an den Wänden reifen.“

Dass Swjaginzew sich trotz der zahlreichen biblischen Bezüge als überzeugter Atheist entpuppt, hat man ihm im derzeit wieder stärker religiös geprägten Russland besonders vorgeworfen. Der Geistliche der kleinen Gemeinde rät dem Bürgermeister zu mehr Härte, Kolja entgegnet auf das Gleichnis Hiobs­ genervt, der Priester solle nicht in Rätseln sprechen. Nicht Gottvertrauen lässt ihn sein Schicksal erdulden, sondern Machtlosigkeit. Bei aller Putin-Polemik ist es aber auch ein Zeichen ausgleichender Gerechtigkeit, dass Swjaginzew Inspiration nicht in der Bibel oder der aktuellen Russland-Politik fand, sondern ausgerechnet in den US-Nachrichten: Im Jahr 2004 fuhr Marvin Heemeyer mit einem gepanzerten Bulldozer in das Rathaus seiner Heimatstadt Granby in Colorado, um gegen den Bau einer Fabrik zu protestieren. Swjaginzew hat den Spieß umgedreht. In „Leviathan“ machen die Bulldozer zusammen mit Koljas Haus auch die Hoffnung auf eine gerechtere Gesellschaft platt.

Youtube Placeholder
An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates