Tipp: Mommy :: Regie: Xavier Dolan
Das sperrige, fast quadratische 1:1-Bildformat, eine reichlich prätentiöse, aber auch ziemlich tolle Erfindung des frankokanadischen Regisseurs Xavier Dolan, besitzt keine Peripherie, keinen Kontext, keine Distanz. Es ist ganz Zentrum, Herz, Seele, unbändiges Leben, das irgendwie rauswill. Im Kinosaal sind die Bilder von Dolans fünftem Film, „Mommy“, eine eigenartige Erfahrung. Seine Figuren, der verhaltensauffällige und zu Aggressionen neigende Steve und seine Trash-Couture-Mutter, Diane, sind buchstäblich zwischen zwei breiten schwarzen Balken eingeschlossen, es gibt für sie – und den Zuschauer – kein Entkommen vor der unglaublich physischen Intensität ihrer volatilen Mutter-Sohn-Beziehung. Schon in seinem letzten Film, „Sag nicht, wer du bist!“, spielte Dolan mit verschiedenen Bildformaten, aber da blieb sein Ausgangspunkt immer die konventionelle Breitbild-Komposition, die die Welt in eine Ordnung setzt, die man seit der Erfindung der Zentralperspektive unwillkürlich mit einem objektiven Betrachterstatus assoziiert.
Objektivität aber ist Dolans Kino fremd. „Mommy“ besteht im Grunde nur aus Close-ups, superintimen Einstellungen, die den natürlichen Freiheitsdrang seiner Figuren einschränken. Auch darum befindet sich André Turpins Kamera ständig in Bewegung. Es ist die einzige Möglichkeit, mit den Menschen in Dolans Filmen Schritt zu halten. Auf einem leeren Parkplatz tanzt Steve einmal ausgelassen mit einem Einkaufswagen, er dreht sich wie ein Derwisch auf Speed, und die Kamera umkreist zur Piano-Ballade „Colorblind“ von den Counting Crows in taumelnden Bewegungen dieses Schauspiel, ohne den Jungen wirklich zu fassen zu kriegen. Das ist die eine Seite von Steve. Die andere kommt schon in der folgenden Szene zum Vorschein. Denn „Mommy“ ist auch ein Film der extremen Stimmungsschwankungen.
Als Steve nach Hause zurückkehrt, hat er seiner Mutter eine offensichtlich gestohlene Halskette (mit dem Wort ‚Mommy‘ in goldenen Lettern) als Geschenk mitgebracht. Auf ihre harsche Zurückweisung reagiert er zunächst wie eine Drama-Queen und bald wie ein Berserker. Vor seinem Gewaltausbruch kann Diane sich gerade noch in die Abstellkammer flüchten. Als sie wieder aus der Dunkelheit heraustritt, steht ein neuer Mensch im Leben von Mutter und Sohn: Die schüchterne Nachbarin Kyla verarztet gerade Steves Wunden, der impulsive Junge ist vorerst gezähmt. „Ihr Hintern riecht nach Rosen, das ist Schicksal“, sagt er lapidar, als sie wieder weg ist. Tatsächlich erweist sich diese Begegnung für Mutter und Sohn als schicksalsträchtig.
Kyla, die sich selbst in einer Art Schockzustand befindet, wird zur Mittlerin zwischen den selbstzerstörerischen Temperamenten von Steve und Diane. Weil keine Schule ihren Sohn mehr aufnimmt, bittet Diane die beurlaubte Lehrerin, Steve privat zu unterrichten. An diesem Punkt könnte „Mommy“ die Richtung vorhersehbaren Wohlfühlkinos einschlagen – eine optimistische Wendung, die Dolan tatsächlich kurz als ernsthafte Option austestet: aus der Perspektive einer Mutter, die aus Liebe zu ihrem Sohn sogar entgegen ihrem Mutterinstinkt handeln würde. Doch Dolan geht es nicht um eine moralische Errettung, sondern um die ganz großen Gefühle. Das Pathos einer Mutter-Sohn-Verbindung, die mehr als einmal die Grenzen der Intimität überschreitet, ohne je frivol zu sein.
„Mommy“ erzählt von einer Ménage-à-trois, wie man sie im Kino noch nicht gesehen hat. Dolan liebt seine Figuren abgöttisch, und er schüttet seine Liebe kübelweise über ihnen aus: in Bildern voll schillernder Flamboyanz und roher emotionaler Exzesse. Diane, wie sie flittchenhaft mit ihren knappen Oberteilen und strasssteinbesetzten Jeans mal wieder ihrem strauchelnden Sohn zur Hilfe eilt. Oder Steve bei einer hochnotpeinlichen, aber schutzlos dem Publikum ausgelieferten Karaoke-Einlage mit Andrea Bocellis „ Vivo per lei“, die natürlich wieder in einer Prügelei mit pöbelnden Gästen endet.
„Mommy“ ist nach allen ästhetischen Registern reines Affektkino. Das Pathos der Unmittelbarkeit, ohne Erwägung rationaler oder relativierender Faktoren. Wie man sich auch sicher sein kann, dass Dolans Charaktere in jedem Konflikt intuitiv die nächstliegende Lösung wählen. Und manchmal kulminiert dieser handfeste Pragmatismus dann in einem denkwürdigen Kino-Moment. In voller Fahrt, poetry in motion, schiebt Steve auf seinem Longboard die schwarzen Balken des Bildes zur Seite, er öffnet das Kinobild mit einer triumphierenden Geste der Befreiung. Gefühle übersetzen sich, das ist das Besondere an Dolans Kino, in physische Bewegung. Am Ende ist Steve, schon wieder in vollem Lauf, nur noch durch einen harten Schnitt der Regie aufzuhalten.