Damián Szifron :: Jeder dreht mal durch
Anfangs scheint alles zu sein wie immer im Kino: Romina und Ariel, Braut und Bräutigam, küssen sich, die Familien und Freunde haben sich nach der Kirche in einem schicken Restaurant versammelt, die ersten Gänge des Hochzeitsmahls werden aufgetragen. Es drohen lange Reden von Vätern und anderen Gästen, der gemeinsame Walzer des Brautpaares, das Anschneiden der Hochzeitstorte. Alles schon hundertmal gesehen, im Kino noch öfter als in Wirklichkeit. Doch noch nie, jedenfalls nicht seit Robert Altmans „Eine Hochzeit“, ist im Kino eine Hochzeit derart vollkommen aus dem Gleis geraten wie diese jüdische Hochzeit in Argentinien.
Durch Zufall und genaue Beobachtungsgabe erfährt Romina nämlich mitten in der Feier, dass ihr frisch Angetrauter erst kürzlich mit einer Bürokollegin ins Bett ging – und dazu auch noch die Frechheit besaß, diese zur Hochzeit einzuladen. Erschüttert, zugleich fest entschlossen, sich die Party nicht verderben zu lassen, übt die Braut Rache: Sie tanzt in höllischem Tempo mit allen möglichen Gästen und befördert dabei „ganz zufällig“ den ungeliebten Hochzeitsgast ins Krankenhaus. Irgendwann schläft sie auf der Dachterrasse mit dem vollkommen überrumpelten Koch, und vor allem macht sie ihrem Gatten innerhalb weniger Stunden klar, wer in Zukunft zu Hause das Sagen hat. Bestechend ist Érica Rivas in der Rolle der schönen, ungemein energiegeladenen Braut, in der sie wie die legitime Nachfolgerin von Anna Magnani wirkt.
Als das im Film passiert, ist der Zuschauer schon auf alles gefasst. Denn diese Hochzeit ist nur die letzte und beste Geschichte von „Wild Tales“ („Relatos salvajes“), einem sechsteiligen Episodenfilm, der in mehreren überaus schrägen Szenarien ein Panorama des modernen Argentinien bietet – aber nicht nur Argentiniens, sondern der ganzen Welt, ihrer Absurditäten und Ungerechtigkeiten. Auf diskrete und unaufdringliche Weise wird hier toughe, abgründige, zugleich sehr, sehr lustige und kompromisslose Gesellschaftskritik geübt.
Alle sechs Geschichten handeln von Rache, mal ausgetüftelt, meist spontan. Alle sechs schildern sonderbare Begegnungen von ungleichen Menschen. Autos, die Druckkammern des Normalmenschen, spielen in gleich drei von ihnen eine zentrale Rolle. In einer versucht eine reiche Familie die Unfallfahrt ihres Sohnes zu vertuschen. Der Chauffeur soll die Schuld auf sich nehmen. In einer zweiten bekämpfen zwei egomane Autofahrer einander auf einer einsamen Landstraße bis aufs Blut – buchstäblich. In der dritten wird einem von Argentiniens Star Ricardo Darín gespielten Familienvater immer wieder der Wagen abgeschleppt. Konfrontiert mit der sturen Absurdität des bürokratischen Systems, weiß der Sprengstoffexperte irgendwann nur noch einen Ausweg: Er setzt sich mit Dynamitstangen zur Wehr.
Die einzelnen Teile ergeben trotzdem ein Ganzes. Alles wird vereint durch die Haltung des Films, die respektlos und subversiv die Welt nicht mehr ernst nehmen will, sondern sie als Narrenschiff zeigt, das von Zynikern und Charaktermasken bevölkert ist. Dabei ist psychologisch alles recht triftig: Dieser Film zeigt keine Karikaturen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut.
„Wild Tales“ ist ein amoralischer Riesenspaß im Hier und Jetzt, eine schrille Groteske in karnevaleskem Stil, dabei überaus originell in Ton und Haltung. Dies ist eine moderne Komödie, eine bitterböse, schwarze Farce, die sich traut, die Dummheit und Niedertracht ihrer Figuren mal nicht mehr menschelnd aufzufangen, wie Woody Allen es immer tut – und deutsche Kritiker es sich immer wünschen, um dann einen weiteren Besinnungsaufsatz über Humanismus schreiben zu dürfen. Dieser Film ist so fies, wie es den Figuren und ihrem Benehmen gebührt, und er entlarvt nebenbei die Behauptung, ein guter Film müsse seine Figuren lieben, als leeres Gerede.
Regie führte der international bislang fast völlig unbekannte Argentinier Damián Szifron. In „Wild Tales“, seinem ersten Spielfilm, zeigt er seine Klasse, kombiniert Slapstick mit Wortwitz, Situationskomik mit Anarchie. Damit hat er es im Sommer sofort in den Wettbewerb von Cannes geschafft. Szifron ist in seiner Heimat mit „Los Simuladores“ bekannt geworden, einer TV-Serie, die das argentinische Fernsehen revolutionierte. Ganz bestimmt wird man noch von diesem Regisseur hören. Produziert haben den Film Pedro Almodóvar und dessen Bruder, und auch dieser Einfluss ist spürbar. Manchmal erinnert „Wild Tales“ an die übersprudelnden, barock-übervollen, „verrückten“ Komödien Almodóvars aus den 80er- und 90er-Jahren. Dies ist also sicher der richtige Film zur moralischen Erholung nach den Feiertagen.