ROLLING STONE hat gewählt: Das sind die Alben des Jahres 2024

Das sind die 50 Alben des Jahres 2024 – zusammengestellt von den Kritiker:innen des ROLLING STONE.

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Empfehlungen der Redaktion

30

Tucker Zimmerman – „Dance Of Love“

In den 60er-Jahren sah es kurz aus, als würde Tucker Zimmerman als New-York-Folkie Karriere machen, doch es wurde nichts daraus. Sechs Jahrzehnte später richten Big Thief das Rampenlicht auf den jetzt 83-Jährigen – und machen mit ihm eines der berührendsten Alben des Jahres. Es ist eine enorme Wärme in diesem Country-Folk. Fernab der Öffentlichkeit hat Zimmerman eine beeindruckende Songwriter-Aura entwickelt. – JS

29

Waxahatchee – „Tigers Blood“

Vordergründig verschmilzt Katie Crutchfield immer weiter mit gängiger Americana. Doch hinter dem klaren, unprätentiösen Sound steckt nach wie vor eine Songschreiberin, die in „The Wolves“ oder „Crimes Of The Heart“ genug Widerhaken für nähere Betrachtung auswirft. Die ist auch bei ihrem Gehilfen MJ Lenderman geboten, der prächtig harmoniert und im Duett „Right Back To It“ noch weiter an die Rampe darf. – JF

28

The Smile – „Cutouts“

Das erste der drei The-Smile-Alben, das nicht so klingt, als wären Thom Yorke und Jonny Greenwood allein damit zufrieden, verhuschte (Kraut-)Rock-Skizzen mit luftigen Gitarren-Girlanden zu behängen. „Instant Psalm“ verleihen sie biblische Schwere, „Eyes & Mouth“ erinnert an die Radiohead der „In Rainbows“-Ära. Und je besser The-Smile-Alben wie dieses werden, desto länger das Warten auf Radiohead … – SN

27

Pet Shop Boys – „Nonetheless“

Neil Tennant und Chris Lowe grooven entspannt in den Herbst ihrer Karriere. Sie bleiben lebensweise und nachdenklich, wie in „The Secret Of Happiness“. In schwelgerischen Tönen bekennen sie sich zu „A New Bohemia“, dann tanzen sie ausgelassen in der Erwachsenen-Disco. Ihren exzellenten Geschmack im Midtempo-Beat haben sie sich bewahrt. Und ihren Humor auch („The Schlager Hit Parade“). – RN

26

Nichtseattle – „Haus“

Betreten auf eigene Gefahr! Alle Stücke auf „Haus“ sind einem Raum zugeordnet, der erste heißt „Beluga (Eigentumswohnung)“. Wer sich dort umschauen will oder gar einziehen, muss schon starke Nerven haben. Katharina Kollmann alias Nichtseattle spielt toll Gitarre und hat eine gute Band dabei, doch sie sitzt auf dem Cover nicht zufällig allein im urbanen Nirgendwo und guckt uns kritisch ins Gesicht.

Vieles, was an Berlin und wahrscheinlich allen Großstädten beknackt ist, kommt gleich in den Anfangsminuten vor – Bio-Belugalinsen essende Yoga-Typen zum Beispiel:

„Und er liest so stolz Bücher von Frauen/ Und wird nur neue Märchen mit bauen/ Von Gesundheit, Schönheit und Gesang/ Er guckt, als wär’ Gesang hier alles, was ich kann.“

Das stimmt natürlich nicht!

Schon auf „Kommunistenlibido“ (2022) war zu hören, wie gut Kollmann unsere Zeit einfangen kann, mit den ihr eigenen Beschwerden, die nichts mit Jämmerlichkeit zu tun haben. Seitdem hat sie vor allem musikalisch noch mehr Selbstbewusstsein entwickelt, und auch die Produktion von Olaf Opal ist auf Wucht angelegt. Doch es sind ihre eben gerade gar nicht so bestimmten Texte, die auch auf „Haus“ den Unterschied machen – und diese Stimme, die sich nicht für ihre Unsicherheiten schämt und manchmal so herrlich genervt leiert.

Umso mehr berührt sie, wenn sie in „Krümel noch da (Tagescafé)“ plötzlich ganz zart klingt:

„Kuchenkrümel in deinem Gesicht/ Ich wünschte, die Grenzen gäb’ es nicht/ Die Grenzen von einem Leben in Stein/ Die Grenzen von Nicht-naiv-Sein.“

Man kann es schon auch deprimierend finden, wenn sie in „Frau sein (Werkstatt)“ davon singt, das alles so nicht zu wollen:

„Geh hin und mach ein Kind/ Gib deinem Leben einen Sinn/ Und halt es hoch, das Kinn!“

Oder brutal ehrlich, wie in „Fleißig (Schloss)“, ihrer Absage an den Kapitalismus.

„Haus“ ist kein einfaches Album, es ist ein wahrhaftiges. Und was wäre 2024 wichtiger? – Birgit Fuß

25

Tierra Whack – „World Wide Whack“

Vom Novelty-Konzept ihres Debüt-Mixtapes „Whack World“ (2018) hat Tierra Whack sich verabschiedet. Aber den Spaß an Albernheiten, Kinderreimen und zitierfähigen Zeilen, an Sound-Spielereien und dem wilden Springen zwischen Rap, Funk, R&B und Pop hat sie nicht verloren. Und in den dunkleren Momenten auf „World Wide Whack“, die sie als würdige Missy-Elliott-Erbin ausweisen, verlässt sie der Humor nie. – MB

24

The Last Dinner Party – „Prelude To Ecstasy“

Die fünf Frauen dieser fulminanten Band haben sich in Renaissance-Rüschenkleidern auf einem Bild über dem Kamin drapiert. Das Debütalbum von The Last Dinner Party löste alle Versprechen ein: Manche sagen Goth-Pop, manche sagen Queen, ich sage Pulp. Der bezwingende Impetus und die theatralische Geste erinnern an die Songs von „Different Class“. Und The Last Dinner Party schreiben auch so gute Songs. – AW

23

Arooj Aftab – „Night Reign“

Vom Sterben und Leben, von verschwundenen Dingen und Menschen und von der Reinkarnation des Verschwundenen in der Erinnerung handelt die Musik der Sängerin Arooj Aftab. Geboren in Lahore, heute in New York lebend, verbindet sie in sehr besonderer, charismatischer Weise Tradition und Moderne sowie den Globalen Osten mit dem Globalen Westen. Man hört bei ihr hindustanische und westliche Klassik; die Kunst des Sufi-Gesangs legt sie über jazzhafte Instrumentierungen und die elektronischen Experimente der Gegenwart. Für den Song „Mohabbat“ aus ihrem Album „Vulture Prince“ (2022) wurde Arooj Aftab als erste pakistanstämmige Künstlerin mit einem Grammy geehrt. Eine weitere Nominierung erhielt sie für „Love In Exile“ (2023), das sie mit dem Bassisten Shahzad Ismaily und dem Pianisten Vijay Iyer aufnahm. Letzterer ist auch auf ihrem diesjährigen Album „Night Reign“ wieder zu hören.

Es orientiert sich noch stärker als ihre vorigen Werke am Jazz, unter anderem mit einer ergreifenden Version des alten Standards „Autumn Leaves“, bekannt gemacht durch Roger Williams, Nat King Cole und Frank Sinatra. Bei Arooj Aftab ist aller Schmelz indes einem melancholischen Minimalismus gewichen. Sie lässt sich beim Singen bloß noch von einer metallenen Percussion und einem knackenden Standbass begleiten; am Ende übernimmt ein sich wie von selbst spielendes Fender-Rhodes-Piano die Melodie. Ihre Lieder singt Arooj Aftab auf Englisch und Urdu. Zum begleitenden Instrumentarium auf diesem Album gehören Vibrafon, Harfe, Gitarre und eine von Elvis Costello bediente Wurlitzer-Orgel. So reich ist die Musik auf „Night Reign“ und zugleich doch so unopulent, dunkelbunt, nächtlich – und so sicher hält Arooj Aftab all das mit ihrer Stimme zusammen: voll Trauer und bewahrendem Gedenken, aber darin auch voller Möglichkeiten und Hoffnung. – Jens Balzer

22

Villagers – „That Golden Time“

Conor O’Brien analysiert aus seinem sanft illuminierten Folk-Schneckenhaus heraus klug und empathisch das Straucheln und Scheitern des Individuums. Der Ire bleibt ein sympathischer Kauz mit grandiosen Songs; Hoffnung und Zuversicht unkündbar im Herzen – trotz allem. Sein daheim eingespieltes, selbst produziertes sechstes Album vereint Akustikgitarre, Piano, Pedal-Steel, Bouzouki und Streicher aufs Schönste. – ISM

21

Julia Holter – „Something In The Room She Moves“

Inspiriert von der Geburt ihrer Tochter und den großen Kreisläufen des Lebens entwirft die Klangkünstlerin eine ozeanische Ambient-Pop-Sinfonie, die die Avantgardistin von „Aviary“ (2018) mit der Songschreiberin von „Have You In My Wilderness“ (2015) versöhnt. Es klingt paradox, aber Holter wirkt auf dieser Platte zugleich geerdet und vollkommen entrückt. Eine Außerirdische, die endlich zu Hause angekommen ist. – MG