ROLLING STONE hat gewählt: Das sind die Alben des Jahres 2024

Das sind die 50 Alben des Jahres 2024 – zusammengestellt von den Kritiker:innen des ROLLING STONE.

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Empfehlungen der Redaktion
10

Tom Liwa – „Primzahlen aus dem Bardo“

An Neugier und Mut, sich ohne Rücksicht auf Verluste weiterzuentwickeln, hat es Tom Liwa nie gefehlt. Auf „Eine andere Zeit“ (2022) bewohnte sein Songwriter-Ich plötzlich viele Figuren. So entstand ein multiperspektivischer Geschichtenstrom von großer erzählerischer Wucht. Letztgenannte findet auf „Primzahlen aus dem Bardo“ in Luisa Volkmanns Spiritual-Jazz-Saxofon eine mächtige musikalische Entsprechung. – MB

9

Tindersticks – „Soft Tissue“

Schlagzeug und Bläser klingen, als hätte Willie Mitchell sie für ein Album seines Labels Hi Records in Memphis aufgenommen, der Bass nach dem Studio 54 in Midtown Manhattan. Wenn Stuart Staples seine Stimme erhebt und die Streicher anschwellen, stehen wir im englischen Regen. Verlangen, Melancholie, Soul, Disco und Dandytum finden auf betörende Weise zusammen bei diesem Crossmapping. – MB

8

Laura Marling – „Patterns In Repeat“

Dass Laura Marling mit ihrem achten Studioalbum eine Trilogie vervollständigt hat, ist der bescheidenen Britin noch nicht einmal eine Erwähnung im Presse-Info wert. Darauf hinweisen darf man aber natürlich trotzdem: Den Anfang gemacht hatte das 2017 erschienene „Semper Femina“, auf dem sie ausgiebig über die Weiblichkeit und ihre eigene feminine Metamorphose sinnierte. Der Albumtitel damals war die gekürzte Fassung eines zentralen Satzes aus Vergils römischem Nationalepos „Aeneis“ und heißt vollständig und übersetzt: „Eine Frau ist ein stets launenhaftes und wandelbares Wesen.“

Musikalisch ist Marling sich stets treu geblieben – und das ist in diesem Fall nichts Schlechtes. Das leise, leuchtende Klampfen-Kleinod ist immer noch ihre Paradedisziplin. Diesmal hat sie sogar ganz auf Percussion verzichtet! Der erwähnte Wandel hat sich also weniger musikalisch vollzogen, sondern vor allem in der persönlichen Entwicklung, die sich wiederum in den Songtexten zu „Patterns In Repeat“ deutlich niedergeschlagen hat.

Welche Muster spielen in der Konstellation der Familie eine Rolle? Welche wiederholen, welche wandeln sich? Besonders berührend: „Looking Back“ hat Marlings Vater, Charlie, vor fast fünfzig Jahren geschrieben, nun interpretiert sie sein Lied. Während „Songs For Our Daughter“ (2020) noch ein Gedankenspiel war, wurde Marling 2023 tatsächlich Mutter einer Tochter. Die Singer-Songwriterin muss nun fokussierter und unmittelbarer arbeiten, Zeitfenster nutzen, wann immer sie sich öffnen. Die Entscheidung, ihre neuen Lieder ganz reduziert im Heimstudio aufzunehmen, oft sogar mit dem Baby im selben Raum, hat den Entstehungsprozess der Platte geprägt und erleichtert. Von Leonard Bernsteins „West Side Story“ inspirierte, hinreißende Streicher wurden nachträglich ergänzt. Diese elf zarten, berückenden Stücke gehören zu Mama Marlings besten. – Ina Simone Mautz

7

Bright Eyes – „Five Dice, All Threes“

Verzweiflung und Einsamkeit, zerbrochene Träume und schwindende Hoffnung: Niemand macht daraus so wunderbare, oft erstaunlich beschwingte Songs wie Conor Oberst, mit der Bright-Eyes-typischen Liebe zu schrulligen Details. Oberst sieht vielleicht eine Schlinge, wo andere ein Seil zum Schaukeln sehen, aber er hat Sätze für die Ewigkeit und große Melodien als Trost. Und wir können von Glück sagen, dass wir ihn haben.  – BF

6

The Cure – „Songs Of A Lost World“

Robert Smith hat sehr lange gebraucht, um diese Songs zu schreiben – 16 Jahre. Die „Songs Of A Lost World“ sind ein Reigen des Weltschmerzes, ein Lamento der Vergänglichkeit. Den langen Einleitungen der Stücke folgt der weinende Gesang des Untergangspoeten, der das Ende der Welt, die er kannte, besingt. Zu statischen, wuchtigen Trommeln wirkt die Klage nicht larmoyant, sondern wie reine Lyrik. – AW

5

Vampire Weekend – „Only God Was Above Us“

Für ihr zweitbestes Album (nach „Modern Vampires Of The City“, 2013) kehren Vampire Weekend zum hibbeligen Melting-Pot-Sound früherer Tage zurück. In diesem Sound werden selbst die urbansten Ecken Manhattans mit sumpfig versampelten Rhythmen ausgekleidet. Kein 40-jähriger Indie-Pop-Musiker klingt einerseits so jung wie Ezra Koenig und erzählt andererseits so viel von Lust und Last am Erbe.

„Pravda“ handelt von seinen russisch-jüdischen Wurzeln und der Angst, den Ahnen nicht gerecht zu werden. „The Surfer“ imaginiert Wellenreiter, nicht jedoch am Coney Island Beach, sondern im für die Five Boroughs essenziellen Wasserversorgungssystem „Water Tunnel 3“. Das größte Bauprojekt der Stadt – auch das ein Koenig-Thema. Man lernt hier was.

„Mary Boone“ wiederum beschreibt alte New Yorker Kunst, das Leben der gleichnamigen SoHo-Stargaleristin und Förderin Jean-Michel Basquiats. Warum Boone? Einfach weil der Name gesungen schön klingt, sagte Koenig und sampelt dazu den Club-Beat von Soul II Soul aus „Back To Life“. Das Spiel mit Popkulturzitaten gipfelt in seiner wahnsinnig anmutenden Inspiration zur Platte: Koenig nahm „Raga-Gesangsunterricht mit Terry Riley im ländlichen Japan“. Rauszuhören ist das nicht. Aber es hat sicher zum Gelingen dieses kleinen Meisterwerks beigetragen. – Sassan Niasseri

4

Billie Eilish – „Hit Me Hard and Soft“

Das überraschendste, weiseste, aufregendste Pop-Album des Jahres. Nach dem vergrübelten und musikalisch zurückgenommenen „Happier Than Ever“ war nicht wirklich zu erwarten, dass Billie Eilish so vehement die Tür eintreten würde. Ihr drittes Album verbindet alle ihre Stärken und erweitert sie enorm: Lyrics, die, so persönlich sie auch sind, ihrem Publikum Identifikationspunkte bieten („People say I look happy just because I got skinny“); ein Soundspektrum, das, so unterschiedlich seine Bestandteile sind (Jazzpop, Electrobeats, Disco, Classic Rock), wie ein homogenes und fast überwältigendes Werk klingt.

Mit „Lunch“ und seiner wuchtigen Bassline liefert Eilish den lässigsten Kommentar zu juveniler Geschlechterverwirrung und sexueller Selbstbestimmung („I could eat this girl for lunch“). Mit „Blue“ einen intimen Abgesang auf eine Liebe, ohne Vorwürfe und Hass, mit „The Greatest“ einen queenesken Rockbombast. Und mit dem sich aus einer jazzigen Ballade herausschälenden Eighties-Electro-Beat-Banger „L’Amour de ma vie“ zeigen sie und ihr Bruder Finneas mal eben, was so alles geht. Während Beyoncé und Taylor Swift mindestens Doppelalben und einen Überbau brauchen, um ihre Punkte für 2024 zu machen, reichen Billie Eilish zehn Songs. Und die sind entwaffnend. – Sebastian Zabel