ROLLING-STONE-Serienspecial: „Unorthodox“-Macherin Anna Winger im Interview

„Unorthodox“-Showrunner Anna Winger im Interview

In einem Jahr, in dem viele Menschen mehr vor dem Fernseher saßen, als sie es wahrscheinlich geplant hatten, war eine Serie wochenlang Gesprächsstoff: In „Unorthodox“ wird die Geschichte der jungen Jüdin Esty erzählt, die in New York in einer chassidischen Gemeinde aufwächst und vor den strengen Regeln und ihrer unglücklichen Ehe nach Berlin flüchtet. Für das Drehbuch und die Produktion verantwortlich ist die Amerikanerin Anna Winger, die selbst seit 17 Jahren in Berlin wohnt.

Nach der „Deutschland 83/86/89“-Trilogie gelang ihr mit „Unorthodox“ ein weiterer Coup: Es gab acht Emmy-Nominierungen und einen Sieg für Regisseurin Maria Schrader, beim Berlin Series Festival drei Preise: als beste Drama-Serie, für das Drehbuch und die Schauspielerin Shira Haas. Anna Winger hat also genügend Gründe, gut gelaunt zu sein, und das lässt sie sich auch in diesen Zeiten nicht nehmen. Ihr zupackender Optimismus wirkt erfrischend, und man versteht schnell, warum sich Netflix, Amazon und Apple um sie reißen. Ihr ist bei all ihren Projekten vor allem eines wichtig: die Künstler immer in den Mittelpunkt zu stellen.

„Unorthodox“ war einer der größten Serienerfolge 2020. Wie überrascht waren Sie davon?
Dass „Unorthodox“ überall auf der Welt so gut aufgenommen wird, ist natürlich sehr bewegend für uns. Dass es während dieser besonderen Zeit passiert, umso mehr, weil die Serie so verbindend war. Sie wurde ja weltweit gleichzeitig veröffentlicht, und alle sprachen darüber. Da wurden Grenzen überschritten, in allen Bereichen: Glaube, Kultur, Sprache.
Ich schätze, bei Netflix waren sie überraschter vom Erfolg als ich. Ich wollte dieses etwas obskure Material so umsetzen, dass es universell verständlich ist. Das war meine ganz klare Intention, und sie haben mir vertraut – aber so ganz vorstellen konnten sie es sich anfangs wohl noch nicht.

„Unorthodox“ in der Kritik der Freiwilligen Filmkontrolle:

Faszinierend an der Serie ist unter anderem, dass in weiten Teilen Jiddisch gesprochen wird, mit Untertiteln. Stand diese ziemlich mutige Entscheidung von Anfang an fest?
Dass das Jiddisch nirgends übersetzt wurde, war ganz wichtig. Ob man die Serie in Saudi-Arabien oder Indien, in Argentinien oder in Deutschland guckt: Das Jiddisch ist überall gleich. Natürlich gibt es in Israel oder in New York und Los Angeles viel mehr Menschen, die viel mehr über die jüdische Kultur wissen – da waren die Diskussionen, wie das repräsentiert wurde, dann natürlich etwas anders. Aber die Geschichte an sich berührt alle ähnlich, und genau so sollte es sein.
„Unorthodox“ beruht auf Deborah Feldmans gleichnamigem Buch – allerdings nur der New-York-Teil, die Geschichte in Berlin wurde hinzugefügt. Wie funktioniert dieser ganze Prozess? Nach welchen Kriterien entscheiden Sie sich für ein Buch?
Ich würde niemals ein Buch annehmen, wenn ich nicht gleich ein starkes Gefühl dafür hätte, wie ich es umsetzen kann. Ich liebe Deborahs Buch, aber es konzentriert sich sehr auf innerliche Vorgänge. Wenn man das auf den Bildschirm bringen will, dann muss man verschiedene Teile rauspicken und einiges fiktionalisieren – und etwas Neues daraus machen. Man muss es sozusagen auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Normalerweise fange ich bei Projekten bei Null an.
Der Prozess beginnt also damit, eine Vision zu entwickeln, wie ein Drehbuch aussehen könnte. Bei diesem war für mich schnell klar, dass wir die Figuren nehmen und sie gewissermaßen befreien – alles, was passiert, nachdem Esty New York verlässt, ist ja ausgedacht. Ich hatte zuerst Sorgen, ob das Deborah passt, aber sie meinte sofort: Go for it! Wichtig war, dass wir dem Spirit des Buchs treu bleiben, aber uns ansonsten alle Freiheiten erlauben. Für mich ist „Unorthodox“ eine persönliche Reise, angetrieben von einem Thriller-Motor. Eine Art Genre-Mix.

Anna Winger

Sie sind hier nicht nur Drehbuchautorin, sondern auch Showrunner und Executive Producer. Was macht man da eigentlich genau?
Alles. (Lacht) Showrunning bedeutet im Grunde, dass man alles macht, also das Projekt von der Drehbuchseite bis zum fertigen Produkt begleitet. In diesem Fall habe ich das ja auch noch mit meiner eigenen Firma, Studio Airlift, koproduziert. Ich habe also das Buch optioniert, alle Leute zusammengebracht, dann die Serie zu Netflix gebracht und weltweit beworben, und so weiter.
Was mir wichtig ist: Ich mache das alles natürlich nicht allein, aber ich suche die Leute aus, mit denen ich es verwirkliche: Alexa Karolinski, mit der ich die Serie kreiert und das Drehbuch geschrieben habe. Maria Schrader, die Regie geführt hat. Henning Kamm von Real Film Berlin, der Ko-produzent. Showrunner halten einfach alle Fäden in der Hand.

Haben Sie zwischendurch auch mal Momente, in denen Sie Angst haben, dass Ihnen alles entgleitet?
Natürlich denke ich mittendrin oft: Verdammt, wir kriegen das nie fertig! Solche Zweifel gehören dazu. Wenn man dann fertig ist, weiß man gar nicht mehr so genau, was eigentlich so schlimm war. Wie bei einer Geburt: Würde man sich daran genau erinnern, bekäme ja niemand ein zweites Kind.

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Auf Amazon läuft gerade eine andere große Serie, „Deutschland 89“, die haben Ihr Ehemann, Jörg Winger, und Sie gemeinsam erfunden. Wie hat man sich das vorzustellen?
Wir arbeiten einfach sehr gut zusammen. Wir reden natürlich viel über unsere Arbeit. Wir sind beide sehr meinungsstark, und wir vertrauen unseren Instinkten. Jörg ist immer mein erster Leser. Beim Showrunning habe ich viel von ihm gelernt, weil er da sehr erfahren ist. Die Verantwortlichkeiten haben sich im Laufe der Zeit etwas verändert. Bei den ersten Staffeln („Deutschland 83“ und „Deutschland 86“) war ich Head-Autorin, und bei „Deutschland 89“ hat er diesen Job übernommen, als ich mit „Unorthodox“ beschäftigt war. Wir teilen uns immer geschickt auf . Er kennt sich zum Beispiel sehr gut mit Scores aus, mir liegt eher die Song-Auswahl für den Soundtrack.

Es gibt ja bei solchen Serien mannigfaltige Herausforderungen. Für „Unorthodox“ haben Sie 60 Mädchen angeguckt, die Esty spielen könnten, bis Sie Shira Haas fanden. Ist es nicht wahnsinnig anstrengend, an allen Schritten des Prozesses beteiligt zu sein?
Ja, aber auch unerlässlich! Ich finde es sehr wichtig, dass die Autoren auch an der Ausführung beteiligt sind, am ganzen Projekt. Wir diskutieren über alles, von Requisiten über Make-up und Musik bis zur Postproduktion. Es braucht ein Dorf, um eine Fernsehserie zu machen! Dieses Dorf ist ganz entscheidend: Wer wohnt darin, wie kommen sie miteinander klar? Man braucht die richtigen Leute.
Das ist wohl auch der größte Unterschied zwischen der Art, wie mein Studio Airlift arbeitet, und der typischen deutschen Produktion: Unsere Firma ist sehr von den Künstlern getrieben. Da ich ja selbst Autorin bin, gebe ich den Autoren auch viel Mitspracherecht und entwerfe alle Projekte grundsätzlich aus Autorensicht. Die hauptsächliche kreative Kraft geht davon aus.
Welche Serien haben Sie zuletzt beeindruckt?
Michaela Coels Serie „I May Destroy You“ liebe ich –wie sie etwas so Schmerzhaftes zeigt und gleichzeitig noch Comedy hineinbringt. Ich mag auch Projekte wie „Tschernobyl“, weil man sich da immer fragt, wie das bloß so unterhaltsam sein kann. Eine wahre Geschichte als Katastrophen-Thriller, der einen viel lehrt. Und ich habe „Emily In Paris“ komplett geguckt. Ich kann es weder erklären noch rechtfertigen. Natürlich habe ich Darren Stars „Sex And The City“ geliebt, aber „Emily In Paris“ ist ja nur ein Schatten davon. Trotzdem, ich konnte mich nicht abwenden. Die Kostüme sind schrecklich, die Stadt sieht nach Kulisse aus, mit Paris hat das wenig zu tun, und dann der Social-Media-Quatsch … Doch ich hatte so viel Spaß daran!

Wie hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert? Können Sie überhaupt noch richtig planen?
Momentan habe ich viel Zeit zum Schreiben. Jetzt bedenkt man die Beschränkungen bei neuen Pro-jekten eben schon mit und versucht vorab Lösungen zu finden. Also aufpassen und die Orte sorgfältig auswählen und sich einfach über alles viel mehr Gedanken machen. Das geht schon. Komplizierter ist es, Serien zu beenden, die vor Corona geschrieben wurden.

Kris Connor
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