Tokio Hotel: 17.000 Fans im Regen und ein Himmel voller Drohnen

Bill und Tom Kaulitz gaben mit Tokio Hotel ein bombastisches Jubiläumskonzert in Berlin. Featuring Kraftklub, Heidi Klum, Regenmaschinen und Mega-Lightshow. Doch was macht den Reiz dieser Band aus? Warum zünden ihre 20 Jahre alten Schmerzenslieder noch heute bei so vielen?

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Am Ende kommt der Regen und ein Feuerwerk explodiert im Himmel über der Wuhlheide. Tokio Hotel spielen „Durch den Monsun“ und die Regenmaschinen leisten ganze Arbeit. Vorsorglich waren mit den Logos der Band und einer großen Telefongesellschaft gebrandete Regencapes an die gut 17.000 Zuschauer ausgeteilt worden.

Der Schlusspunkt und für viele Höhepunkt eines Konzerts, mit dem die Band aus Magdeburg das Jubiläum ihres Karrierestarts feiert: Vor genau 20 Jahren lief „Durch den Monsun“ zum ersten Mal im Radio. Da waren die Zwillingsbrüder Bill und Tom Kaulitz 16.

Im Publikum sind viele, die damals wohl auch zwischen 12 und 18 waren, einige in Begleitung ihrer Eltern, andere mit eigenen Kindern. Viele Tattoos und eine überdurchschnittliche Anzahl an Fan-Shirts, viele von den unterschiedlichen Tourneen der Band, die „Ich-war-dabei“-Trophäen. Die Generation Tokio Hotel, die sich zu einer Zeit, als Genderfluidität noch kein Trademark war, mit Bill Kaulitz identifizierte, der sich in seiner selbstbestimmten Exzentrik von anderen damals zu habenden Jungstars unterschied.

Aber es sind auch deutlich jüngere Fans in die Wuhlheide gekommen, und nicht nur aus Deutschland. Sie singen die neueren, englischsprachigen Songs der Band mit, waren vielleicht noch in der Krabbelgruppe, als „Durch den Monsun“ veröffentlicht wurde. Es ist Tokio Hotel offenbar etwas unwahrscheinliches gelungen: Eine zweite Karriere als Band, nicht nur als entertaining Duo Kaulitz & Kaulitz.

Tokio-Hotel-Fans in der Berliner Wuhlheide

Es war ein Weg: Aufgewachsen in dem Örtchen Loitsche in der Magdeburger Börde, wurden Tokio Hotel zur Teenager-Sensation der Nullerjahre, fünf Jahre später siedelten die Zwillingsbrüder nach Los Angeles um. Eine Flucht aus der Enge, auch vor queerfeindlichen Attacken. Sie singen jetzt englisch, pumpen ihre Musik mit Electrobeats auf, suchen internationale Anerkennung. Und auch bei ihrem Jubiläumskonzert in Berlin teilt sich das Set ein bisschen in die Vor- und Nach-LA.-Zeit, auch wenn die Bemühungen der vier Musiker deutlich sind, die Songs einzuleveln. Tokio Hotel heute ist eine Art Glam-Rock, aufgetunt, electrofiziert, stadionfähig.

Alle Smartphones auf Heidi Klum

Den ersten Höhepunkt an diesem Abend setzt jedoch Heidi Klum, als sie mit ihrem Gefolge und Kamerateam vom Backstage- in dem VIP-Bereich marschiert, und sich alle Smartphones in ihre Richtung drehen. Ebenfalls dort gesichtet: Palina Rojinski, Wilson Gonzales Ochsenknecht, Olli Schulz.

Heidi Klum und Wilson Gonzalez Ochsenknecht beim Konzert von Tokio Hotel

Bill Kaulitz trägt einen pailettenbesetzen Rennfahrer-Anzug und silbern schimmernde Plateaustiefel, als er an einem Stahlseil aus dem Bühnenhimmel auf die Bretter gelassen wird. Tom Kaulitz trägt schwarze Jeans und ein Van-Dutch-Shirt, Bassist Georg Listing ganz schwarz und Drummer Gustav Schäfer ein offizielles Merch-Shirt. Jeder für sich auf einem eigenen Hydraulik-Podest. Doch Tokio Hotel sind offensichtlich eine Band, und noch immer in Urbesetzung, worüber sich Bill Kaulitz selbst zu wundern scheint.

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„Ready Set Go“, das Publikum singt von Anfang an mit. Und hört nicht mehr damit auf. Die Show ist ein Spektakel, wie man es von deutschen Bands nicht kennt, von Rammstein vielleicht abgesehen. Alles wird auf(und ab)gefahren: Hydraulik, Drehmodule, Feuerfontänen, Nebelschwaden, Lichtdome, Laserblitze, Schnipselwasserfälle, Glitzerkanonen, Hug Cams, Drohnen. Eine krachbunte LED-Flacker-, Slogan- und Bilderflut, als hätte man Kraftwerk auf LSD gesetzt. Plakativ wie Tom Kaulitz‘ satte Heavy-Riffs und die EDM-Anklänge in Tracks wie „The Heart Get No Sleep“. Imperial wie Bill Kaulitz‘ Kostümwechsel – zu „Love Who Loves You Back“ tritt er mit einer Mischung aus Krone und Cäsarenhelm und rosa Fellgitarre auf die Bühne, irre kinky und hübsch übergeschnappt. Er dirigiert sein Publikum, nicht nur durch die eine eingeübte Choreo, auch durch ein Dutzend mehr oder minder spontane.

Die Teenager von damals, noch heute gerührt

Mit „Totgeliebt“ dann der erste deutschsprachige Song und interessanterweise ein reduziertes Akustikset mit zwanzig Jahre alten Hits wie „Ich bin nich‘ ich“ und „Rette mich“, selbstverliebten Schmerzensliebesiedern, die die Teenager von damals, heute Mittdreißiger, noch immer tief zu bewegen scheinen. Am Himmel eine bombastische Drohnen-Lightshow, ein Hi-Tech-Spektakel ohnegleichen.

Überdimensioniert? Klar. Wie alles hier, und doch ganz stimmig in seiner heiteren Überdrehtheit, zwischen Kaulitz‘ bodenständigen Champagner-Scherzen und dem Griff nach dem Showsternenhimmel. Dass Kraftklub-Sänger Felix Kummer zum Duett mit Bill Kaulitz auf die Bühne springt, verweist dann noch einmal auf den ostdeutschen Background der Band, aus dem sowohl Tokio Hotel als auch Kraftklub längst herausgewachsen sind, der sie aber auch geprägt hat.

Und als Bill dann vor dem Wasserfontänen-Finale noch einmal mit neuem Kostüm (eine Art diamantbesetztem Catsuit) auf die Bühne kommt und eine verrockte Version von „Careless Whisper“ anstimmt, wird klar, dass es alles nicht so klar und einfach ist. Aber man ein Gefühl dafür bekommt, was es Teenagern vor zwanzig Jahren bedeutet haben kann, einen damals noch mit schwarzer Mähne, Nagellack und Unmengen Kajal gestylten 16-Jährigen aus Sachsen-Anhalt davon singen zu hören, dass alles gut wird, wenn man sich erst durch den Monsun gekämpft hat.

Fabian Sommer dpa
Fabian Sommer dpa