„Wer will schon sehen, wie ich verzweifle?“

WER IST DIESER TYP BLOSS? ER TRÄGT eine schwarze Schlumpfmütze, ausgebeulte Tarnhosen und Turnschuhe, sein angegrauter Bart lenkt von der spitzen Nase ab. So verrät ihn (wenn er gerade nicht so gestylt ist wie auf unserem schicken Foto) nur das meckernde Lachen: Boy George ist wieder da. Nüchtern, schlank, entspannt. Der 52-Jährige redet immer noch ohne Punkt und Komma, nur vom eigenen Kichern unterbrochen. Doch ansonsten hat er sich gut im Griff. Und das neue Album betont schon mit dem Titel, dass es in seinem Leben – nach gut dokumentierten Drogenexzessen, Gerichtsprozessen und anderen Widrigkeiten – jetzt wieder um die Musik gehen soll: „This Is What I Do“ ist ein klassisches Popalbum, mit viel Reggae und Soul infiziert.

18 Jahre sind seit Ihrem letzten Soloalbum vergangen. Warum die lange Pause?

Ich hatte ja viel zu tun. Ich bin als DJ recht erfolgreich, das ist eine schöne zweite Karriere für mich geworden. Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre, als die erste Welle der Boybands über Großbritannien schwappte, war ich plötzlich zu alt fürs Radio. Sie haben mich noch zu Partys eingeladen, um ihren Geburtstagskuchen anzuschneiden, aber meine Musik kam nicht mehr vor. Also dachte ich, fuck you, dann mache ich eben etwas anderes. Acid House war so aufregend. Ich hing viel in Clubs herum, gründete mein kleines Label More Protein und beschäftigte mich immer mehr mit Dance Music. Popmusik ist so formalistisch geworden, deshalb habe ich mich naturgemäß – als Sternzeichen Zwillinge, als Schwamm und diebische Elster – woanders umgesehen, wo ich mehr Inspiration fand. Und ich spreche übrigens nicht von Leuten wie David Guetta, sondern von einer anderen Art DJing. Ich halte mich bei allem, was ich mache, an den Spruch von Diana Vreeland: „Gib den Leuten nicht, was sie wollen. Gib ihnen etwas, wovon sie noch gar nicht wissen, dass sie es wollen!“

Was unterscheidet Ihre heutige Popmusik vom Culture Club der 80er-Jahre?

Als ich jung war, ging es immer nur darum, meine Seele zu offenbaren: „Du hast mich verletzt, und jetzt schreibe ich einen verdammten Song darüber, ätsch!“ Jetzt ist mir das zu offensichtlich. All das Gejammer, das Drama! Mich interessiert immer noch die menschliche Zerbrechlichkeit, aber ich muss meine eigene nicht so deutlich ausstellen. Meine Lieblingsmusik – David Bowie, Marc Bolan – war nie so eindeutig. Und wer will schon sehen, wie ich ein weiteres Mal die Hände über dem Kopf zusammenschlage und verzweifle?

Fallen Ihnen Liebeslieder wie „It’s Easy“ immer noch leicht?

Ich hatte diesmal leider nicht den Luxus eines gebrochenen Herzens, an dem ich mich hätte abarbeiten können. Es gab keinen, an dem ich mich rächen wollte. „It’s Easy“ handelt, ehrlich gesagt, von meinem Vater, der meine Mutter nach 43 Jahren verlassen hat. Ist schon eine Weile her, er ist seit acht Jahren tot, aber das hat mich damals so geschockt. Sie haben sich gequält, angeschrien und all das, aber ich hätte nie gedacht, dass sie sich scheiden lassen. Jahrelang habe ich ihn gebeten, einfach zu gehen, und er salbaderte von Loyalität und Familienzusammenhalt – und dann haut er nach 43 verdammten Jahren mit einer Jüngeren ab! Inzwischen verstehe ich ihn allerdings besser als früher – ich habe unsere gemeinsame Vergangenheit in meiner Erinnerung einfach so umgeschrieben, wie ich sie gern hätte. Das hilft!

Haben Sie je überlegt, das „Boy“ in Ihrem Namen wegzulassen?

Nein. Das wäre doch wie The Artist Formerly Known As Boy George. Sicher könnte ich mich einfach George O’Dowd nennen, aber warum? Ich weiß natürlich, dass ich kein Junge mehr bin, aber ich will die Leute auch nicht verwirren. Die fragen mich jetzt ja schon dauernd, ob ich der Boy George bin.

Werden Sie auf der Straße erkannt?

Manchmal. Aber ich war mal schwerer, mal leichter. Hatte einen Bart, oder auch nicht. Und die Leute denken sowieso, dass ich immer noch 19 bin und Dreadlocks trage. Ich kann U-Bahn fahren und Bus, da reichen schon Mütze und Brille. Das liegt aber auch daran, dass ich mich nicht mehr so panisch umschaue wie damals, als ich immer Angst hatte, erkannt zu werden. Wenn mich Leute ansprechen, bin ich meistens nett. Bloß bitte keine Fotos um 8 Uhr morgens ohne gute Klamotten! Dann spreche ich Italienisch, um sie zu verwirren. Ist nur Mist, wenn man feststellt, dass es Italiener sind!

Sie scheinen sich eine erstaunliche Gelassenheit zugelegt zu haben.

Ich habe das fröhliche Schulterzucken für mich entdeckt. In den Worten von Ivana Trump: „It is what it is.“ Je älter man wird, desto mehr lernt man, dass man manches nicht ändern kann und nur Energie verschwendet, wenn man es versucht. Ich setze meine Leidenschaft jetzt anders ein.

Werden Sie wieder so lange warten bis zum nächsten Album?

Auf keinen Fall. Ich bin schon bereit fürs nächste. Dieses hier ist nur der Appetizer. Zunächst machen wir eine Dub-Version von „This Is What I Do“ mit ein paar neuen Songs und einigen Gästen. Ich bin gerade hinter Nina Hagen her. Und Sinead O’Connor soll dabei sein, Linton Kwesi Johnson, Eek-A-Mouse. Ein paar andere Verrückte halt. Ingmar Bergman hat immer gesagt, man solle sich gleich das nächste Projekt vornehmen, wenn eines beendet ist.

Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Früher habe ich immer gesagt, dass das Universum ein Spiegel ist, der nur reflektiert, wie man sich selbst fühlt. Damals klang das einfach gut, heute empfinde ich es wirklich so. Ich habe viel mehr Respekt – und das Gefühl, Glück zu haben. Ich war als junger Mann nicht undankbar, das nicht, aber ich war immer etwas distanziert. Und ich hatte gar keine Zeit, mich über alles zu freuen, was mir passiert ist. Jetzt bin ich ein bisschen älter, ein bisschen vernünftiger. (lacht laut auf) Na ja, jedenfalls älter.

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