Lemonheads: Evan Dando ist im Exil der König des Dschungels

Nah dran an Evan Dando: Warum der Lemonheads-Frontmann in Brasilien lebt, wie „Love Chant“ entstand und was von Grunge bleibt – jetzt lesen.

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Das Gespräch mit Evan Dando beginnt mit einem sensorischen Overkill. Kaum ist seine Kamera eingeschaltet, zieht Dando die Hand vom Zoom-Handy zurück – und schlägt ohne Vorwarnung auf die Saiten seiner Akustikgitarre ein, die auf seinem Schoß liegt.

Er sagt kein Wort, singt nicht, sondern intoniert ein Lied: „Confetti“, seinen Lemonheads-Klassiker. So möchte man immer begrüßt werden – mit Musik und einem schönen Panorama.

Über Dandos Kopf spannt sich ein blauer Himmel, eingerahmt von Palmen. Dando lebt inzwischen in Brasilien, im Dschungel, eine halbe Stunde von São Paulo entfernt. Es klingt wie ein Klischee, doch er erinnert nun ein wenig an Marcos Valle in den 1970er-Jahren: weizenblonde, ungekämmt hippiehafte Haare, Vollbart.

Na, wegen der schönen Musik, des Wetters, der Frauen?

„Keinesfalls“, sagt der 58-Jährige, zieht mit einem Finger über seine makellose obere Zahnreihe und erklärt: „Ich habe mir das Gebiss neu machen lassen. In den USA kostet das 200.000 Dollar, hier nur 30.000.“

Seit 2023 lebt Dando in Brasilien. Doch nicht nur wegen der Zahnbehandlung, sondern um sich auf das erste Lemonheads-Album seit 2006 vorzubereiten – „Love Chant“. Und wegen der Liebe. Dazu später mehr.

Vom Erfolg zur Abhängigkeit

Sein trockener Hinweis auf die neuen Zähne verbindet ihn mit seiner alten Welt – der amerikanischen, der der Drogen. Die Drogen kamen mit dem Erfolg, die schlechten Zähne mit den Drogen. Mit „It’s a Shame about Ray“ gelang Dando 1992 der kaum noch für möglich gehaltene Durchbruch; es war bereits das fünfte Lemonheads-Album. Es geschah im Jahr eins nach Thurston Moores proklamiertem „The Year Punk Broke“, das in Wirklichkeit nicht Punk, sondern den Siegeszug des Grunge bezeichnete. Nirvana und Pearl Jam dominierten: laut, wütend, düster.

Evan Dando kam ein halbes Jahr später, wandte sich dem Pop-Folk zu und liebte das Leben – Optimismus, Zelturlaube, Drogen, aber nicht aus Dämonenbekämpfung, sondern aus Lebensfreude. Dando war das Neunziger-Modell des langhaarigen Schönlings mit melancholischem Blick. Soul Asylum oder die Crash Test Dummies hatten weniger Talent, aber dank einfacher Songs mehr Erfolg. Dann kam Crack, dann Heroin – und der Absturz.

Aus dem „Posterboy des Grunge“ wurde ein Opfer, nach 1996 veröffentlichte er kaum noch Musik. Auf Cameo bot er personalisierte Grüße aus seiner Garage an – für 176 Dollar. Er brauchte Geld. „Null Heroin hier in Brasilien“, sagt Dando. „Da stehen die Leute nicht so drauf. Ich bin sowieso clean.“

Zwischen Klarheit und Chaos

Abgesehen vom gelegentlichen Joint. Er redet pausenlos, manchmal fahrig, oft in einem Bewusstseinsstrom, in dem Gedanken sich gegenseitig überholen. Gedanken, die brillante Sätze hervorbringen: „Mudhoney? Helden! Let’s face it: Mudhoney sind wie Nirvana – ohne Money. Alles nach Mudhoney hat doch einfach nicht gezählt. A bunch of paranoid weirdos, das war die Grunge-Bewegung. Und musikalisch so schlicht. Hauptsache kein Wah-Wah, was? Die Grungeboys fanden doch auch Boston und Lynyrd Skynyrd gut.“

Mudhoney sind wie Nirvana – ohne Money: Wortspiele, die hoffentlich auch in seinen im November erscheinenden Memoiren „Rumours of My Demise“ zu lesen sind.

Ein neues Album und alte Weggefährten

Das neue Lemonheads-Album „Love Chant“ entstand gemeinsam mit alten Weggefährten aus den Neunzigern – J Mascis, Juliana Hatfield – und Fanboys wie Adam Green. Es vereint harschen Punk („58 Second Song“), ironischen Glam („Wild Thing“) und Dando-typische, an Gram Parsons orientierte Melancholie („The Key of Victory“).

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Dando klingt heiserer als früher, was am Crack liegt. „Kurt Cobain und die anderen … immer nur am Schreien gewesen. Ich kann aber nicht schreien.“ Nebenbei erzählt er von den realen Gesetzen hinter der scheinbaren „Fuck Capitalism“-Haltung des Grunge: „Als ich das letzte Mal mit J Mascis zusammenarbeitete, warf ich ihm das Geld geradezu in den Rachen. Viertausend für vier Gitarrensoli.“

Heute habe sich das geändert: „Dieses Mal hat er mehr als vier Soli eingespielt. Und alle gratis.“

Zwischen Exil und Wiedergeburt

Im brasilianischen Hochland-Dschungel fühlt sich Dando an den geliebten Topanga Canyon bei Los Angeles erinnert. In die USA will er jedoch nicht zurück: „Nur noch Hass dort auf den Straßen. Ich sagte 1992 schon, dass das Land immer schlimmer wird. Die Leute bringen sich wegen Parkplatz-Tickets um. Ich bin das Exil gewohnt. Mag sein, dass Brasilien sich an China und Russland ranwanzt. Aber ist es in Amerika so viel besser?“

Er erinnert sich an ein Poster, das in seinem Kinderzimmer hing, und zitiert James Joyce fast vollständig – ein Beweis für seine geistige Klarheit: „Ich will dir sagen, was ich tun und was ich nicht tun werde. Ich werde dem nicht dienen, woran ich nicht mehr glaube, sei es nun meine Heimat, mein Vaterland oder meine Kirche – wie auch immer es sich nennt. Und ich werde versuchen, mich in irgendeiner Form des Lebens oder der Kunst so frei und ganz auszudrücken, wie ich es kann, wobei ich mich nur mit den einzigen Waffen verteidigen will, die ich mir gestatte: Schweigen, Verbannung und List.“

Dando lächelt: „Schweigen lasse ich für mich nicht gelten. Aber Verbannung und List nehme ich an, jederzeit. Ich war schon oft im Exil.“

Ein Leben im Dschungel

Das Exil könnte schlimmer sein. Sein jetziges Haus gehörte Renato Teixeira, einem der populärsten Sertanejo-Sänger Brasiliens, dessen größter Hit „Romario“ durch Elis Regina 1977 berühmt wurde. Dando zeigt am Handy seine Plantage mit Ferienhäusern: „Ein Leben wie ein James-Bond-Schurke. Ein Aufnahmestudio auf einem Hügel, nur über eine verrückte steile Auffahrt zu erreichen.“ Und alles erschwinglich: „In Amerika gäb’s dafür nicht mal ein Wohnmobil.“ Die Verbindung bricht ab – Netzausfall. Dando ist zu weit weg vom Haus.

Einige Minuten später ist er wieder online und hält einen Hundewelpen in die Kamera. Er hat mehrere Patenschaften für zugelaufene Hunde übernommen. Dann zeigt er auf das Haupthaus: „Die Gegend hier ist klasse. Alle wollten hier wohnen. Auch Josef Mengele lebte nicht weit weg, lange bevor er im Meer vor Santos ertrank.“ Dann – ohne Ironie: „Aber er war nie Teil der Musikszene.“

Denn die Musikszene gab es hier im Dschungel durchaus. Evan Dando hat, umgeben von Palmen, Schlangen und Lianen, ideale Bedingungen gefunden. Renato Teixeira, der Verkäufer des Landsitzes, ist praktischerweise sein Schwiegervater. Im Dezember 2024 heiratete Dando dessen Tochter Antonia und wurde Stiefvater ihrer drei Kinder. Dando begleitet Teixeira regelmäßig bei dessen Konzerten im Land, spielt Akustikgitarre und singt auf Portugiesisch – auch wenn er die Sprache kaum versteht.

Ein ungewohntes, aber sympathisches Bild: der Schwiegersohn, ein schlurfender Flanellhemdträger, neben der ergrauten 80-jährigen Legende, die mittlerweile auf einem Hocker Platz nimmt.

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„Nun sag doch wenigstens einmal Hallo!“, ruft Dando jemandem außerhalb des Bildschirms zu. Dann erscheint Antonia Teixeira kurz im Zoomfenster. „Sie hat mich gerettet“, sagt er. „Ich kenne sie seit den 1990er-Jahren. Aber ich stieß sie damals von mir fort.“ Es war die Zeit, als er ein Heroin-Junkie war. „Sie sollte mich so nicht sehen. Aber sie hat auf mich gewartet. Jahre gewartet. Ich habe eine harte Strecke zurückgelegt. Und nun haben wir so viel Schönes zusammen. Mein Gott, schauen Sie doch mal.“ Dando richtet die Kamera nach oben: „Diese Wolken.“

Neuanfang unter Palmen

Könnte er sich vorstellen, selbst brasilianische Musik zu komponieren, Sertanejo oder Bossa Nova? „Auf keinen Fall“, sagt er. „Meine Mutter würde das nicht erlauben. Sie sagt: ‚Evan, was du auch tust, mach niemals diese David-Byrne-Nummer mit der Weltmusik.‘ Und sie hat ja so recht.“

Es sind ohnehin Lemonheads-Songs, keine Exotica-Darbietungen eines amerikanischen Ex-Pats, die das Publikum von Dando hören will. Und die Lemonheads sind gefragt. „Es widerspricht jeder Logik“, sagt er. „Zuletzt traten wir im Enmore Theatre in Sydney auf, ausverkauft, 2.500 Leute, so viele wie seit Jahrzehnten nicht. Das Londoner Roundhouse ist noch größer, dort spielen wir auch. Dabei liegt mein letztes Album mit eigenen Songs bald 20 Jahre zurück.“

Zwischen 1992 und 1993, mit „It’s a Shame about Ray“ und „Come On Feel The Lemonheads“, war Evan Dando neben Kurt Cobain und Eddie Vedder einer der größten Stars des Alternative Rock. Dann zerstörte er sich selbst – die Drogen, das 1996er-Album „Car Button Cloth“, das wie eine Outtake-Sammlung der „Ray“-Songs klang. Würde er, wenn er könnte, die Zeit zurückdrehen? „Nein, niemals!“, schießt er dazwischen. „Nostalgie ist eine Krankheit, right? Nostalgie galt einst sogar offiziell als Krankheit. Soldaten litten darunter, wie unter Kriegstrauma.“ Er lacht. „Gut, auch ich blicke zurück. Ich hätte manches anders machen sollen. ‚Schau nie zurück‘ als Motto ist auch albern. Wie ein Slogan der Anonymen Alkoholiker.“

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Nach James Joyce zitiert Dando nun Dylan Thomas. Er kennt seine Meister, trägt Gedichte wie „Fern Hill“ oder „Poem in October“ vor. „Thomas sagte: Kindheitserinnerungen sind endlos, sie verlängern unser Leben bis in die Ewigkeit. Das hat er schön gesagt. Doch wenn ich mich nostalgisch fühlen will, klappe ich nachts meinen Laptop auf – und schaue auf YouTube alte Kung-Fu-Filme.“

Dando sagt, er sei kein digitaler Typ, aber manchmal werfe er einen Blick auf Streamingzahlen. „Ich liebe diese App mit dem grünen Symbol, wie heißt die nochmal? Spotify! Und was sah ich da? Unsere neue Single ‚Deep End‘ ist dort bereits in den Lemonheads-Top-Ten. Na also!“ Auf Platz eins der Lemonheads-Spotify-Charts steht, wie zu erwarten, wohl für immer „Mrs. Robinson“, die Coverversion des Simon-and-Garfunkel-Klassikers. Dando wollte das Lied nie live spielen – inzwischen mit der Begründung, dass die Einspielung ein perfekter One-Take gewesen sei, den man auf der Bühne nicht wiederholen könne.

Grundsätzlich aber hat er Frieden mit „Mrs. Robinson“ geschlossen. Der Erfolg der Coverversion führte dazu, dass sie späteren Editionen von „It’s a Shame about Ray“ hinzugefügt wurde: „Unserem Label war das Album mit 29 Minuten eh zu kurz.“ Bei der Aufnahme hätten globale Marktinteressen eine Rolle gespielt – es sei darum gegangen, Mike Nichols’ Film „Die Reifeprüfung“ von 1967, in dem das Lied erstmals zu hören war, neu zu bewerben. „Wir nahmen ‚Mrs. Robinson‘ für eine japanische Firma auf, die die Videofilmrechte an dem Film erworben hatte“, sagt Dando mit einem Seufzer.

„Diese Leute sahen die Lemonheads nur als Werkzeug. Wir sollten die Grunge-Kids dazu bringen, sich ‚Die Reifeprüfung‘ auf Video zu kaufen.“ Doch die Kids waren nicht dumm. Spätestens als die Modeindustrie 1994 Models im Holzfällerlook über die Laufstege schickte, wurde Grunge zur Marke – und die jüngere Generation wandte sich ab. Dann starb Kurt Cobain.

Der letzte Posterboy

Später setzte Martin Scorsese die Lemonheads-Version von „Mrs. Robinson“ in „The Wolf of Wall Street“ (2013) ein – einer schwarzen Komödie über größenwahnsinnige Wall-Street-Broker. „Dann bin ich also der Posterboy für die Dekadenz der frühen Neunziger geworden!“, sagt Dando. „Aber warum auch nicht?“ Er blickt nach unten. Der Hundewelpe jault, will auf seinen Schoß. Dafür müsste er die Gitarre ablegen. Für einen Moment scheint er zu zögern. Dann hebt er den Hund hoch – und legt ihn auf die Saiten.