AIR im Interview: „Wir hechelten nie einem Trend hinterher“

Nicolas Godin über 20 Jahre des Duos AIR, den Tod von Prince – und warum der Klassiker "Moon Safari" vor allem mit einem Spaziergang auf Erden zu tun hat.

Mit „Twentyears“ haben Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel am 10. Juni die erste Best-Of von AIR veröffentlicht. Anlass ist das 20-jährige Bestehen des Duos. Im Gespräch erzählt Godin von den Stücken des Doppel-Albums, auf welche Lieder er verzichtet hatte – und welche Song-Überraschungen die Band unbedingt beifügen wollte.

Warum auf der Best-Of gleich fünf Songs aus dem Album „Talkie Walkie“ (2004) vertreten sind – genau so viele wie vom Klassiker „Moon Safari“ (1998): 

Die Plattenfirma pickt manchmal diejenigen Tracks raus, die ich selbst nicht als Single gewählt hätte. Manchmal verfolgen beide Seiten verschiedene Ziele. Bei „Talkie Walkie“ wurde das deutlich. „Venus“ und „Run“ sind damals nicht ausgekoppelt worden, obwohl ich sie für zwei wirklich starke Stücke halte. Stattdessen entschied sich das Label etwa für „Surfing On A Rocket“. „Talkie Walkie“ war aber eben auch unser zweiterfolgreichstes Werk nach „Moon Safari“. Deshalb so viele Songs, die auf „Twentyears“ vertreten sind.

Über die 10cc-Hommage „Run“ mit seiner Multi-Track-Aufnahme, die den Gesang wie einen Chor klingen lässt:

Wir bedienten uns hier eines ähnlichen Aufnahmeprozesses wie 10cc: Jeder Ton des Gesangs wurde einzeln aufgenommen – wir sind an unsere Grenzen gegangen, es war für AIR eine sehr experimentelle Art aufzunehmen. Mit dem Ergebnis sind wir zufrieden, auch live: In The Studio You Do What You Want. On Stage You Do What You Can.

Über den Verzicht von „Radio #1“, der Vorabsingle aus „10.000HZ Legend“, auf der Best-Of:

Es ist so schwer eine Greatest-Hits-Platte zu kompilieren! Natürlich setzt man sich mit Wünschen von verschiedenen Seiten auseinander – diese Single, kann sie rauf? Was ist mit jenem Lied? Aber im Grunde gibt es heutzutage keine Regeln mehr, was die Tracklist solcher Werkschauen angeht …

Und deshalb ist der eher unauffällige Track „Moon Fever“ aus „Le Voyage Dans La Lune“ (2012) auf dem Album enthalten:

… schauen Sie sich „Moon Fever“ an. Dieses Instrumental hat auf Spotify die meisten Abspielungen von unserer „Le Voyage …“-Platte. Ein Indiz für die Popularität, Fans scheinen das Lied zu mögen – also haben wir es auf die Best-Of genommen. Ich war davon auch überrascht. Ich hätte hier eher auf „Parade“ oder „Seven Stars“ getippt.

„Sampling ist für uns kein Thema“

Über „10.000 HZ Legend“, das in diesem Frühjahr sein 15. Jubiläum feiert:

„10.000HZ Legend“ war ein durchaus politisches Album. Nach dem Erfolg von „Moon Safari“ wurde uns klar, dass wir ein komplett anderes Album nachlegen mussten – weniger Träumerei, mehr Härte. Sonst hätte die Gefahr bestanden, dass man uns auf einen ganz bestimmten Lounge-Sound festlegen würde.  Viele Fans gaben sich enttäuscht, aber für uns war das Album eine künstlerische Befreiung. Deshalb überhaupt sind wir noch hier. Die Leute hatten erkannt, dass AIR sich  Herausforderungen stellen.

Über „La Femme D’Argent“, das den Rhythmus von Edwin Starrs „Runnin'“ gesamplet hat – und den Abschied der Band 1998 vom Sampling:

Wir mögen eigentlich kein Sampling. Und über dieses Thema möchte ich nicht reden.

Warum Hits wie „All I Need“ nicht mehr live zu hören sind:

Wir lieben es Gastsänger zu haben, so wie Beth Hirsch auf „All I Need“ und „You Make It Easy“. Auf Platte toll, aber dann gehen wir auf Tour – und die Vokalisten stehen uns natürlich nicht für eine ganze Konzertreise zur Verfügung. Sehr schade, es stellt uns immer wieder vor Probleme. „Playground Love“ aus „The Virgin Suicides“ (2000) etwa führen wir bei unserer aktuellen Tournee als Instrumental auf. „Gordon Tracks“, also Phoenix-Sänger Thomas Mars, kann ja nicht immer mitreisen. Das ist natürlich eine Enttäuschung, für die Fans, und für uns. Selbst bei Songs wie „Sexy Boy“, die wir auf der Bühne selbst singen, wissen wir, dass sie mit dem Live-Vocoder anders klingen als auf Platte.

„Sexy Boy ist der Wein, der mit den Jahren immer besser wird“

Über den größten Single-Erfolg, „Sexy Boy“, und wie man mit dem Hit umgeht:

Bei unserer 2001er-Tour zu „10.000HZ Legend“ spielten wir „Sexy Boy“ in einer neuen Version: langsamer, verträumter, fast Waltzer-artig. Wenn man mit einem Hit wächst, älter wird, dann bietet er einen neuen Reiz, wenn man ihn abändert. Für mich ist „Sexy Boy“ wie der Wein, der mit den Jahren immer besser wird.

Über die Unterschiede zwischen der Album- und der Single-Version von „Kelly, Watch The Stars!“:

Alles in allem bevorzuge ich die sanftere Album-Version, aber sie ist viel zu langsam. Unglaublich langsam! Aber sie klingt wie ein Demo, im positiven Sinne – charmant.

Warum „Le Soleil Et Pres De Moi“ 20 Jahre nach Veröffentlichung noch so frisch klingt wie damals – und AIR damit einen Trademark-Sound erfanden:

Wir hatten uns von Beginn unserer Karriere an das Ziel gesetzt etwas Zeitloses zu erschaffen. Wenn ich das Stück heute höre, denke ich immer noch: Wir waren damals keinem Trend hinterher gehechelt. Bis heute halten wir uns an diese Maßgabe.

Warum keine Songs aus dem „Love 2“-Album (2007) auf „Twentyears“ gelandet sind:

In erster Linie fehlte uns ein wenig der Platz, noch mehr Songs aus unserer Karriere auf dem Doppel-Album unterzubringen. Ich kann verstehen, dass Fans das Trippy-Gefühl von „Love 2“, diese Art Dschungel-Fieber, gefiel. Für mich war die Platte eher eine Enttäuschung. Vieles darauf fühlte sich nicht wie ein Produkt von AIR an. Nach meinem Empfinden haben wir „Love 2“ auch zu schnell aufgenommen und veröffentlicht. Jedesmal, wenn ich heute einen Song aus dem Werk höre, tut mir das weh. Dabei standen wir damals unter Strom, was eigentlich toll ist.

Über die zweite „Twentyears“-CD, auf der B-Seiten und Outtakes versammelt sind – und die Zusammenarbeit mit Charlotte Gainsbourg, die gemeinsam mit Jarvis Cocker „The Duelist“ singt:

Wir hatten für Charlotte Gainsbourg ja zuvor auch das Album „5:55“ komponiert und aufgenommen, und ich hätte es geliebt, wirklich geliebt eines ihrer Stücke davon auf unsere Best-Of zu packen. Ich finde, einige der Lieder davon zählen zu den besten, die ich jemals geschrieben habe. Aber sie sind eben auch Charlottes Songs, und deshalb hätte ich Skrupel, sie diesem AIR-Album beizufügen.

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Ob „5:55“ (2007) nicht auch besser war als das im selben Jahr veröffentlichte AIR-Album „Pocket Symphony“:

Ja, „5:55“ war stärker. Aber wissen Sie auch, warum? Charlotte bekam von uns die besten Songs, und dann fehlte uns die richtige Idee für unser eigenes „Pocket Symphony“, das kurze Zeit später erschien. Bei dieser Platte fehlte es uns an Inspiration.

Über „J’ami dormi sous l’eau“, das nicht in der „Premiers Symptomes“ (1996)-Version enthalten ist, sondern in der BBC-Livesession:

Vielleicht war der Sound auf unserer Debüt-EP nicht kräftig genug. Das Besondere an der BBC-Version: Als Backingband fungieren unsere Freunde, die Band Phoenix. Thomas Mars, der Sänger, spielt das Schlagzeug.

Wie ihn der Tod von Prince getroffen hat:

Es ist so schrecklich. Ich bin mit der Musik von Prince aufgewachsen, es war für mich so, als wäre ich direkt mit Prince aufgewachsen. In den Achtzigern gab es Prince und Michael (Jackson), und ich denke, so großartig hatte sich das zuletzt für Fans in den Sechzigern angefühlt, die mit den Beatles und „Sgt. Pepper“ aufgewachsen sind. Jeder, der Zeitzeuge war von „Thriller“ oder „Purple Rain“, darf sich glücklich schätzen. Die beiden vereinten, so wie Stevie Wonder, das Beste aus drei Welten: Den Groove, die Melodien, die Produktion. Wann immer AIR in den Staaten auf Tournee waren, wollten wir in Minneapolis auftreten – im Saal „First Avenue“, der für Prince wie ein Wohnzimmer war. Allein schon, weil wir Fans von Prince und „Purple Rain“ sind!

1987 dann, ich 17 war, bin ich in der Nähe meines Elternhauses in Versailles zum Plattenladen gegangen – nachts, denn ich kannte den Besitzer. Und er sagte zu mir: „Ich habe heute die neue Prince-Single bekommen.“ Dann, es war dunkel und wir alleine im Geschäft, drehte er die Anlage auf und spielte „Sign ‚O‘ The Times“ ab: Der Rhythmus. Der Bass. Das war Avantgarde. Ein Hit-Single mit Avantgarde-Musik!

Über die Zukunft von AIR:

Nach unserer Tour setzen wir uns zusammen und schauen, ob und wann es neue Musik geben wird. Zunächst sammle ich Material für mein zweites Soloalbum, experimentiere rum. Wenn es zu AIR passt, könnte es auch Stoff für AIR werden. In meiner zweiten Soloplatte wird es nicht um Bach und Klassik gehen, wie in „Contrepoint“, sondern Architektur. Im Mittelpunkt werden sieben bedeutende Architekten des 20. Jahrhunderts stehen.

Die Bedeutung von „Moon Safari“:

Die Platte wird mit dem Weltraum, fremden Planeten und natürlich unserem Mond assoziiert. Für mich persönlich war „Moon Safari“ der Soundtrack meiner Spaziergänge, dort, wo ich aufgewachsen bin, in Versailles. Wir hatten einen Garten, es gab viele Bäume, in der Nähe einen See. Gebäude wie architektonische Wunderwerke. Dort bei Sonnenuntergang zu laufen, das war für mich wie eine „Moon Safari“. Fahren Sie nach Versailles, gehen Sie dort spazieren. Setzen Sie dann ihre Kopfhörer auf – es entsteht eine automatische Verbindung zu „Moon Safari“.

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