Air im „Moon Safari“-Interview: „Wir bleiben euer Safe Space!“

Air veröffentlichen „Moon Safari“ neu und gehen auf Tournee. Wir trafen sie zum Interview

Jean-Benoît „JB“ Dunckel und Nicholas Godin gehen mit ihrem viel geliebten „Moon Safari“-Album von 1998 auf ausverkaufte Europa-Tournee, gastierten allein dreimal (02. März – 04. März) im Berliner Theater des Westens (lesen Sie unsere Konzertreview hier), und spielen am 21. Juli in der Zitadelle Spandau. Am 15. März erscheint die „Deluxe 25th Anniversary Edition“ mit elf Bonustracks und der von Mike Mills gedrehten USA-Konzertreisen-Doku „Air: Eating, Waiting, Sleeping And Playing“. Ein Interview über die generationenübergreifende Faszination des Pop-Meisterwerks.

Alle lieben „Moon Safari“, Sie spielen erstmals europaweit vor ausverkauften Häusern. Liegt es daran, dass die Musik aus einer friedlicheren Zeit stammt? Die Spätneunziger waren von politischer Entspannung geprägt, Nine Eleven war nicht absehbar. Sehnen sich die Leute nach dieser Epoche?

Jean-Benoît Dunckel: Ich glaube, dass „Moon Safari“ eine heilende Wirkung hat. Man kann diese Musik hören, und danach geht es einem besser.  Die Menschen spüren die Freundlichkeit und Güte in den Songs, die Schwingungen übertragen sich. „Chill Out“ ist ein überstrapazierter Begriff, aber er trifft es doch ganz gut. Das spürt auch die neue Generation, die wir hoffentlich auch auf Tournee sehen werden. Die Zeiten sind härter geworden, ich wünsche mir, dass unsere Lieder auch junge Leute beruhigen. Nicholas und ich wurden in den späten 1960er-Jahren geboren, waren in den 1990er-Jahren also jung. Für Menschen unserer Generation bietet „Moon Safari“ pure Nostalgie. Leben in einer einfacheren Zeit. Vom Erfolg der jetzigen „Moon Safari“-Tournee waren wir aber dennoch überrascht, man sieht es ja auch, an den vielen nachgebuchten Terminen.

Nicholas Godin (li.) und JB Dunckel

Ihr letzter Auftritt in Deutschland vor der Jubiläumstour datiert auf 2016, Air traten beim „Deutsch-Französischen Fest“ vor dem Brandenburger Tor in Berlin auf. Heute wirkt Europa zerstrittener denn je, rechtsextreme Parteien regieren, und Scholz und Macron können nicht miteinander. Spüren Sie diesen Wandel?

Nicholas Godin: Wie Jean-Benoît schon sagte, alles kommt einem schwerer vor. Deshalb sehen wir „Moon Safari“ auch als absolut legitime Flucht vor der Realität. Aber bei mir fing das schon in der Schulzeit an. Ich fand Schule wirklich schrecklich. Eine eigene Welt zu errichten, die die Lehrer nicht sehen, das wurde sehr früh mein Lebensziel. Leider wird auch die Beschäftigung mit Politik immer anstrengender. Auch deshalb haben junge Leute ihre Safe Spaces errichtet, es sehnt sie nach Sicherheit. Air sind auch ein Safe Space, und das wollen wir bleiben. Für uns ist Safe Space eine Kunstform. Wir wollen diese Kunstform nutzen, um uns vor allem Hässlichen, das die Welt gerade bietet, die Gewalt und Menschenverachtung, zu schützen.

Dabei dreht sich „Moon Safari“ auch um irdische Probleme. Im Doku-Stil-Video zu „All I Need“ lernen wir  ein Skater-Pärchen kennen, das über Beziehungsprobleme spricht. Auf YouTube hat die echte Melissa den Clip unlängst kommentiert. Sie ist mit Mark nicht mehr zusammen, aber noch immer befreundet.

Godin: Acht, das ist ja toll mit den beiden! Als das Video 1998 erschien, begannen JB und ich auch schon, uns zu verändern. Wir wollten „Moon Safari“ hinter uns lassen, und das war auch okay. Alben sollen, wie Kinder, ihr eigenes Leben entwickeln. Die Aufnahmen zu diesen Liedern lagen da schon ein Jahr zurück.

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Nun führen Sie das Album in ganzer Länge und chronologischer Reihenfolge auf. Die vier populärsten der zehn Stücke kommen also gleich zu Beginn: „La Femme D’Argent“, „Sexy Boy“, „All I Need“ und „Kelly, Watch The Stars!“. Hatten sie daran gedacht, der Liveset-Dramaturgie zuliebe die Tracklist umzustellen?

Dunckel: Nein, wir respektieren natürlich die Originalabfolge der Stücke. Das Publikum soll sich ja, wie unsere Albumhörer, in die Gefühle fallen lassen können, die von Song 1 bis 10 entstanden und noch immer entstehen. „Moon Safari“ ist vielleicht kein Konzeptalbum, aber die Running Order ergibt schon Sinn.

Das immer ekstatischer werdende „La Femme D’Argent“, ein wie für die letzte Zugabe geborenes Instrumental und traditionell auch am Ende gespielt, rückt nun also live erstmals nach vorne. Ungewohnt?

Godin: Ja, natürlich (lacht). Aber das Album ist wie ein Theaterstück oder ein Buch. Das sieht beziehungsweise liest man ja auch nicht von hinten nach vorn. Man kann das Schlusskapitel nicht zuerst darbieten oder vorlesen, man kann den Beginn nicht am Ende bringen.

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„All I Need“ und „You Make It Easy“ haben Sie seit 1998 nicht mehr aufgeführt, „Ce Matin La“ erfährt nun sogar seine Livepremiere.

Godin: Mit „All I Need“ und „You Make It Easy“ war es live immer schwierig. Den Gesang auf Platte übernahm Beth Hirsch, sie stand auch schon auf unserer Bühne, um beide Lieder zu singen. Aber wir hätten unmöglich bei jedem Konzert, geschweige denn jeder Tournee eine Sängerin in der Mitte des Sets auf die Bühne holen und sie danach wieder von der Bühne gehen lassen können. Das hätte dramaturgisch nicht funktioniert. Das hätte den Trip zerstört. Wie eine Fernsehwerbung in einem Film, der ohne Unterbrechung hätte laufen sollen.

Nun übernehmen Sie, von kurzen Einspielungen Hirschs abgesehen, komplett.

Godin: Mit Vocoder! „Ce Matin La“ wiederum hatten wir nie gebracht, weil wir glaubten, der Song würde nur mit echten Bläsern funktionieren. JB spielt die Bläser nun auf seinem Moog-Synthesizer. Ich finde, das klingt noch cooler als das Original. „Ce Matin La“ soll das Gefühl evozieren, das ich von den Titelmelodien der Kinderfernsehsendungen der 1970er kannte, und die Keyboardbläser befriedigen die Sehnsucht für mich noch mehr. Wir hätten das Lied viel, viel eher aufführen sollen, das wird mir jetzt klar.

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Ende der 1990er-Jahre setzte die „Albums played in its Entirety“-Welle ein, Künstler führten ihre Werke in ganzer Länge auf. In der heutigen Streaming-Ära haben Alben an Stellenwert verloren – jüngere Musiker werden diese Art Konzerte nicht mehr darbieten, oder?

Dunckel: Wir entstammen noch der Album-Ära, klar. Den Songs die richtige Reihenfolge zu geben ist eine Kunst für sich, ich bin froh, dass wir uns damit beschäftigen konnten, ein Gefühl dafür entwickelt zu haben, wann welcher Song kommen muss. Das LP-Format mit 46 Minuten Spieldauer ist perfekt. Die perfekte, die Konzentration des Menschen bindende Länge. Die CD kann bis zu 80 Minuten umfassen, das ist zu lang. Musikliebhaber entwickeln einen Instinkt dafür, welche Art von Lied auf ein anderes folgen muss, damit das Gesamtwerk funktioniert. Wie Stimmungen von Lied zu Lied getragen werden. Ich weiß nicht, wie wichtig so etwas heutzutage ist, uns aber war das wichtig.

Godin: Ich würde sagen, so wurden wir gar erzogen. Social Media ermöglicht es einem leider, Musik nur noch als Snippet wahrzunehmen. Wie auf TikTok. Was da abgespielt wird, hat mit dem Albumformat nichts mehr zu tun. Wir sind vielleicht nicht die letzte Generation, der das Album wichtig ist. Aber womöglich die vorletzte.

Die „Moon Safari“-Tour von 1998 konnte recht wild zugehen. Sie fuhren Soundattacken mit psychedelischen Gitarren, stellten Lieder wie „Bee a Bee“ vor, die erst viel später auf Platte landeten, dann intonierten sie Erotiknummern aus dem „Billitis“-Score. Für die Jubiläumstour war das keine Option?

Dunckel: Nein. Wir spielen die zehn „Moon Safari“-Stücke und danach ein Best-of der kraftvollsten Lieder, die danach entstanden. Ich glaube, das ist das, was die Leute hören wollen. „Cherry Blossom Girl“, „Venus“, „Highschool Lover“, „Electronic Performers“. An der Vergangenheit kleben wollen wir aber auch nicht. Wir integrieren neue Sounds und Effekte in unser Arrangement. Wir tauschen unser Equipment aus, informieren uns über den neuesten Stand.

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Dem Reissue ist auch die Mike-Mills-Doku „Air: Eating, Waiting, Sleeping And Playing“ beigefügt. Sie galten in Amerika als französische Exoten und feierten doch, mit den Weggefährten Étienne de Crécy, Daft Punk und später Phoenix, ab Mitte der Neunziger Welterfolge. Sie waren die letzten Ihrer Art. Warum ist dieser French New Wave kein Nachwuchs entsprungen?

Godin: Das ist eine gute Frage, aber ich würde das nicht so schwarz sehen. Wir waren ein Türöffner, das sicherlich, aber ich höre regelmäßig Musik französischsprachiger Künstler, die mich beeindruckt haben, und die sich in der Welt einen Namen machen. Jüngst habe ich die neue Single von Christine and the Queens gehört, ein Feature auf dem neuen Song von MGMT. Gute Nummer. Was natürlich stimmt: Vor Air gab es wenige Künstler aus Frankreich, die sich in den USA durchsetzten. Wir waren die ersten beim Coachella-Festival. Ich sehe Air vielleicht als Pioniere. Aber man darf nicht Jean-Michel Jarre vergessen.

Er trat 1986 in Houston auf, angeblich vor mehr als eine Million Menschen.

Godin: Er war ein Pionier. Aber die echten französischen Pioniere? Satie und Ravel.

Nach Veröffentlichung Ihrer Debüt-EP „Premiers Symptômes“ von 1996 dachten viele, Air seien DJs, keine Musiker.

Dunckel: Umso wichtiger war unsere erste Tournee zwei Jahre später mit „Moon Safari“. Wir wollten den Leuten zeigen, dass wir Instrumente besitzen, dass wir Instrumente spielen, dass wir zusätzliche Livemusiker haben, die den Sound auf die Bühne bringen. Wir verzichteten schon früh auf Samples.

Das „Moon Safari“-Reissue beinhaltet eine Extended Version von „Kelly, Watch The Stars!“. Maxi-Versionen waren in den 1990ern schon nicht mehr üblich, die meisten Künstler fertigten eher Remixe an.

Godin: Ich habe die Single-Version, die nun als Extended Version vorliegt, gegenüber der Albumversion immer bevorzugt. Sie ist schneller, und eine Akustikgitarre ist vorne im Mix. Auf Platte war mir der Bass auch immer zu laut. Aber nach all den Jahren habe ich Frieden mit der Albumfassung geschlossen, die wahrscheinlich eh mehr Leute kennen. Bei einer Radioaufzeichnung spielten wir „Kelly, Watch The Stars!“ jüngst in der verträumteren Version wie auf Platte. Und ich dachte: Oh, ist doch ganz charming! Was JB sagt, stimmt: „Moon Safari“ gehört jetzt euch, nicht mehr uns. Ihr entscheidet, was gut ist.

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Sie sagten in einem Interview, „Le Soleil est près de moi“ aus „Premiers Symptômes“ sei der beste Air-Song. Warum spielen Sie ihn seit 1998 nicht mehr live?

Dunckel: Puh, wir denken regelmäßig darüber nach, und wir sprechen auch darüber. Bis zu den Deutschlandkonzerten würden wir das nicht mehr proben können. Aber wir können nicht ausschließen, dass wir uns für die aktuelle Setlist bald ein wenig mehr Abwechslung wünschen werden. Dann käme „Le Soleil est près de moi“ auf jeden Fall in Betracht. Ehrlich gesagt könnte das eigentlich nicht schnell genug gehen!

Warum treten Sie aktuell vor allem in Theatern auf? Royal Albert Hall, Theater des Westens …

Godin: Als Kind war ich ein Riesenfan der Muppet Show. Nun sind wir selbst die Muppets. Und die Muppets treten in einem Theater auf.

Nach „Moon Safari“ wurden Air dunkler. Sie besangen bösartige Aliens und das „Sex Born Poison“.

Dunckel: In „Moon Safari“ ist das dunkle Geheimnis schon angelegt. Nach dem Album wurden wir aber sicher weirder. Wir gingen durch eine Art schwarze Periode, gerade mit dem „The Virgin Suicides“-Soundtrack für Sofia Coppola, als auch unserem „10.000 Hz Legend“-Album von 2001. Viele Menschen mögen auch gerade diese beiden Alben. Mich macht das froh, weil es zeigt, dass sie uns vertrauen, egal in welcher Stimmung sie sind oder wir.

Mit ihrem Spätwerk sind Sie immer noch ungnädig. Bei der „Moon Safari“-Tour spielen Sie keine Lieder ab „Pocket Symphony“ von 2007 …

Dunckel: Die jüngeren Songs passen nicht ins Konzept dieser Tournee. Wir möchten aber nicht ausschließen, dass wir anderen Alben nicht auch noch eine Konzertreise widmen.

Der neue, vorher unbekannte „Moon Safari“-Reissue-Track „Dirty Hiroshima“ hätte mit seiner Erzählung vom Tod auch zu „10.000 Hz Legend“ gepasst. Warum haben Sie ihn erst jetzt ausgegraben?

Godin: Ganz ehrlich, wir hatten dieses Lied einfach vergessen. Als es an die Arbeit zum Re-Release des Albums ging, hat ein Mitarbeiter mir diese Aufnahme gesteckt. Ich dachte nur: Oh mein Gott – mir gefällt das. Vielleicht sollten wir nochmal ins Studio und aus dem Demo eine echte Version machen.

„New Star In The Sky“ wurde komplett überarbeitet. Eine Uptempo-Nummer, für die fertige Fassung umfunktioniert zu einer Ballade.

Dunckel: Für uns das Beispiel einer ganz natürlichen Evolution. Das Disco-Arrangement fühlte sich am Ende nicht mehr richtig an. Musik ist für mich wie eine Pflanze, die wächst. Finale Versionen müssen gar nicht die perfekten Versionen sein. Für mich ist entscheidend, dass sie die Versionen mit der perfekten Balance sind.

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Auf den Promofotos von „Moon Safari“ werden sie wie Kinder inszeniert: Sie springen in die Luft. Und in dem „Kelly, Watch The Stars!“-Video spielen sie im Schneidersitz Pong. „Sexy Boy“ spielt mit Comic-Elementen. Dieses Image der großen Jungs legten Sie danach schnell ab.

Godin: Wir wollten dieses Bild bei „Moon Safari“ bewusst vermitteln. Das Album dreht sich um unsere Kindheit. Es fühlte sich richtig an, Cartoons zu inszenieren, ein Gefühl der 1970er-Jahre hervorzurufen. Wir sind mit dem Telespiel Pong aufgewachsen. JB und ich zählen zur ersten Generation der Pong-Spieler. Pong ist zu einem Teil meiner Persönlichkeit geworden.

Das „Sexy Boy“-Video dreht sich um Ihr damaliges Maskottchen, ein Kuscheltier-Affe. Was steckt dahinter?

Dunckel: Das ist King Kong.

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Und er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: „I Love Moon“.

Dunckel: Er ist ein sexy King Kong. Ein kleiner sexy King Kong. Das Stofftier hatte seinen festen Platz in meinem Bett. Irgendwie hat er es dann auf unsere Platte und in unser Video geschafft.

Ihr letztes Album, „Music for Museum“, datiert auf 2015. Wird es bald ein neues geben?

Dunckel: Nein!

Die Antwort kam sehr schnell. Bekommen Sie die Frage oft gestellt?

Dunckel: Wir können Ihnen keine befriedigende Antwort geben. Wir konzentrieren uns auf die Tournee und die Wiederveröffentlichung des „Moon Safari“-Albums. Schauen wir mal. Geplant ist jedenfalls noch nichts.

Willy Huvey Warner Music
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