David Lynch war der Erfinder des Jumpscares mit Ankündigung
David Lynch war der Erfinder des Jumpscares mit Ankündigung, wie er in „Mulholland Drive“ bewies.

Schauen Sie sich bitte das obige Artikelbild an. Falls Sie David Lynchs „Mulholland Drive“ noch nicht gesehen haben, ist alles in Ordnung. Falls Sie „Mulholland Drive“ aber gesehen haben, müssten Ihnen die Haare bereits zu Berge stehen. Auch, wenn nicht viel zu sehen ist, außer eine Häuserecke hinter einem Diner. Wer „Mulholland Drive“ kennt, weiß nämlich, was in zwei, drei Sekunden nach Einblendung dieser Ecke passieren wird. Ein wirklich entsetzlicher Jumpscare.
Die Klasse dieser Szene besteht in der minutiös vorbereiteten, geradezu sanften Hinleitung zu genau diesem Jumpscare. Und das macht David Lynch, den im Januar 2025 verstorbenen Regisseur, zu einem Erfinder. Dem Erfinder des Jumpscares, den er ankündigt – denn es liegt eigentlich in der Natur des Jumpscare, dem Schreckmoment, dass er plötzlich kommt. Nicht hier. Was hinter derEcke lauert, zeigt sich nicht mal all zu rasch. Sondern geschmeidig.
Was passiert in der „Diner-Szene“ von „Mulholland Drive“?
Der Prolog von „Mulholland Drive“ aus dem Jahr 2001 widmet sich Dan (Patrick Fischler), der in einem Diner am Sunset Boulevard seinem Freund von einem wiederkehrenden Alptraum berichtet. In diesem Alptraum lauert eine Kreatur hinter dem Diner. Der Freund sagt Dan, er solle sich dem Problem stellen. Und einfach dort nachsehen. Dieses Gespräch dauert knapp vier Minuten. Regisseur David Lynch kündigt das Unheil also früh an.
Dan und sein Begleiter gehen sehr langsam um das Gebäude herum. Lynch leitet in die Ich-Perspektive Dans über, wie in obigem Foto.
Die Kreatur (möglicherweise ein Backwood’s Man aus dem „Twin Peaks“-Universum) schiebt sich nach rechts in Bild. Dan bricht zusammen, erleidet einen Schock. Wir erleiden auch einen Schock. Was bizarr anmutet. Denn es ist genau das passiert, was Dan vor Minuten schon angekündigt hat. Sein Alptraum ist real.
Warum ist das Monster real?
Es wird an einem Detail erkennbar. Dan fällt auf den Boden, der Filmton wird dumpf. Das spiegelt seinen Zusammenbruch wider, er versinkt in einer Ohnmacht. Nachdem wir seine Perspektive verlassen haben, blendet Lynch allerdings nochmal zur Kreatur. Und zeigt, wie sie wieder hinter der Ecke verschwindet. Würde sie nur in Dans Einbildung existieren, hätte Lynch uns ihr Verschwinden nicht zeigen müssen. Sie bewegt sich aber auch dann noch, als Dan bereits das Bewusstsein verloren hat. Dass Dans Begleiter die Kreatur nicht sieht? Das allerdings bleibt rätselhaft.
Lynch verlässt die Szene auf Nimmerwiedersehen. Ob man Dan in einer TV-Serie, als die „Mulholland Drive“ ursprünglich gedacht war, wiedergesehen hätte?
Bedeutung der Diner-Szene
Die „Mulholland Drive“-Exposition gilt als eine der bedeutendsten Szenen in Lynchs Schaffen. „Ich bin ein menschliches Wesen!“ („Der Elefantenmensch“) gehört dazu. Das inflationär zitierte „Ohr hinter der Heilen-Welt-Fassade“ („Blue Velvet“) auch. Das Schlangenlederjackenpostulat („Wild at Heart“) und „Wir sind uns schon einmal begegnet, oder nicht?“ („Lost Highway“) ebenso.
Zur „Diner-Szene“ gibt es viele Erklärungen. David Lynch selbst hat sich Deutungen seiner Arbeit stets verweigert. Was ihn übrigens von Epigonen wie Ari Aster oder M. Night Shyamalan unterscheidet, die erklären sich sogar ungefragt.
Eine übliche Erklärung: David Lynch ist ein erklärter Gegner der Psychoanalyse. Er will seine Ängste nicht verstehen lernen, er will sie nur abbilden. Wer versucht, sich seinen Ängsten zu stellen, wie Filmfigur Dan, riskiert seinen Verstand.
Wer will, kann in Dans Abstieg einer Leiter hinunter, die zwischen ihm und der schicksalhaften Wand steht, auch den „Abstieg ins Unbewusste“ sehen. Auch den Abstieg Dans zeigt Lynch in der Ich-Perspektive. Was bemerkenswert ist, denn er nimmt damit ein Ruckeln des Bilds in Kauf.
Die Figur hinter dem Diner wird verkörpert von Bonnie Aarons. Die amerikanische Schauspielerin wird, anscheinend wegen ihrer „charakteristischen“ Nase, häufig für Horrorfilme engagiert. Sie spielt auch „The Nun“.
Ihre Kreatur könnte für das Leben stehen, das viele Menschen in Hollywood leben müssen. Eben nicht als Stars. Sondern als verwahrloste Obdachlose. Und das spiegelt sich im Thema von „Mulholland Drive“: Hauptfigur Betty (Naomi Watts) will eine Filmkarriere schaffen. Und geht daran zugrunde.