Genesis: Überschätzt? Unterschätzt?

Sind Genesis ohne Peter Gabriel weniger wert? Warum ist sein Ruf besser als der von Phil Collins? Fragen, die immer für Aufruhr sorgen

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Einer der erfolgreichsten Artikel auf rollingstone.de teilt Genesis-Fans in zwei Lager. Er zeigt den langen Schatten, den Peter Gabriel Jahrzehnte nach seinem Ausstieg auf Genesis wirft. Im Juli 1986 gelang Genesis mit „Invisible Touch“ ihr erster und einziger Nummer-eins-Hit in den Billboard-Charts. Der Song hielt sich dort eine Woche – dann wurde er von Peter Gabriels „Sledgehammer“ abgelöst, ebenfalls seine erste und einzige Nummer eins in der wichtigsten aller Singles-Ranglisten.

Genesis ohne Gabriel „nichts wert“?

ROLLING STONE fragt in den Sozialen Medien regelmäßig: „Welches Lied ist besser?“ Doch obwohl Genesis und ihr Ex-Sänger in jenem Sommer vor 39 Jahren Kopf an Kopf in den Charts aufeinandertrafen, fällt die Antwort unter unseren Lesern eindeutig aus. Etwa 75 Prozent stimmen für Gabriel und „Sledgehammer“. Die meisten seiner Apologeten schreiben: „Ohne ihn waren Genesis nichts wert!“.

Peter Gabriel gegen Phil Collins: Ein Ruf-Duell

Stimmt das? Nein. Aber Peter Gabriels Ruf ist besser als der von Phil Collins, jenes Schlagzeugers, der Genesis ab 1975 auch als Sänger anführte. Gabriel galt als seriös, Collins als flatterhaft. Gabriel war Exzentrik, Antikapitalismus, Weltpolitik und Weltmusik. Collins stand für Concorde-Flüge, Hemd in der Hose und Betriebsfeier-Fun. Und nicht für Arbeit.

Was für ein Irrtum. Schon 1981, in einem Jahr der außerordentlichen Rhythmen („Nighclubbing“, „Computerwelt“, „Controversy“), erarbeitete Collins für sein Solodebüt „Face Value“ auf dem Linn-LM1-Drumcomputer schweißtreibende Percussion-Patterns und vermischte sie mit einem Schlagzeug zu einem Klanggerüst, das seinesgleichen sucht. Die zweite Hälfte von „In The Air Tonight“ (mit dem Schlagzeug) würde ohne die erste Hälfte (mit dem Drumcomputer) nicht funktionieren – und umgekehrt. Entstanden ist ein Geniestreich.

Zweifel an Collins’ Seriosität bleiben

Manch einer hatte dennoch Zweifel an der Seriosität von Phil Collins. Schon 1983, als Genesis ihr Video zu „That’s All“ veröffentlichten. Es zeigt Collins, Tony Banks und Mike Rutherford als muntere Clochards, die sich an einem Feuer wärmen, also im komischen Rollenspiel. Kein Millionär wagt es heute, sich als Obdachloser zu inszenieren. Sagen wir es so: Peter Gabriel hätte das schon in den Achtzigerjahren nicht getan. Dabei waren Genesis, auch wenn der künstlerische Ausdruck manchmal unbeholfen war, unter Collins‘ Ägide eine politische Band. Und im Gegensatz zu Gabriel haben sie spätestens 1986 die Zeichen erkannt. Die Aufnahmen von „Invisible Touch“ wurden zwei Monate vor Tschernobyl abgeschlossen und eineinhalb Monate danaach, am 06. Juni, veröffentlicht. Das Album war wie eine ungeahnte parallele künstlerische Begleitung des Unglücks.

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Das Titellied, eine Variation von Sheila E.s „The Glamorous Life“ (Collins sagte das selbst) ist eine überdrehte Ode an eine unerreichbare Traumfrau. Aber die anderen Lieder? Trafen den Zeitgeist wie 1986 nichts anderes. „Domino“ erzählte von Verbarrikadierung vor dem Fallout, „Land of Confusion“ von einer Gesellschaft, die der nuklearen Aufrüstung gleichgültig gegenübersteht: „I won’t be coming home tonight / my generation will put it right / we’re not just making promises / that we know we’ll never keep“.

Genesis engagieren sich für Anti-Atom-Projekt

Außerdem arbeiteten Genesis im selben Jahr am Soundtrack von „Wenn der Wind weht“ mit, der Verfilmung des Raymond-Briggs-Comics über die Auswirkungen eines Atomschlags. Die meistverkauften Scores waren dennoch „Top Gun“ und „Rocky IV“ – Filme über amerikanischen Hurra-Patriotismus. Und eben jene „Supermen“, darauf wiesen Genesis in „Land of Confusion“ hin, gibt es nicht. Weil das Video mit den Spitting-Image-Puppen eine Botschaft mittels Humors transportierte (wie schon das Video zu „That’s All“), wurde die Dringlichkeit übersehen.

Spitting-Image-Video zu „Land of Confusion“

Mit „That’s All“ nun waren Genesis längst zu Popstars geworden. Und weil Phil Collins allein als Solomusiker zwischen 1983 und 1989 mehr Nummer-eins-Hits verzeichnete als Michael Jackson, machte sich ein Gefühl der Übersättigung breit. In den Neunzigern hatten er und Genesis ausgesungen.

Das Ende der Collins-Ära

1991 erschien das letzte Genesis-Album mit Collins, „We Can’t Dance“. Das Jahr brachte die VW-Sonderedition des Genesis-Golfs, eines Autos, das selbst wie Genesis ist: Mag nicht jeder, ist aber nicht verhasst, und die Maschine läuft solide. „We Can’t Dance“ war die Volksmusik zum Volkswagen, die Single „I Can’t Dance“ des gerade mal 40-jährigen Collins der gezwungene Versuch einer ironischen Kapitulation vor Tanzflächen-Trends.

Zwischen Gabriel und Collins – eine Wahl mit Stil

Nochmal zurück ins Jahr 1986. Wer sich zwischen „Sledgehammer“ und „Invisible Touch“ nicht entscheiden möchte, sollte froh sein. Es hätte schlimmer kommen können. Gejagt wurde „Invisible Touch“ in den US-Charts nämlich auch von Kenny Loggins‘ „Top Gun“-Hymne „Danger Zone“ – die es aber zum Glück nur auf die Zwei schaffte. Doch auch Peter Gabriels Triumph mit „Sledgehammer“ währte kurz. Nach einer Woche musste sein Signatursong einer Schmalzballade weichen. Peter Ceteras „Glory of Love“ aus „Karate Kid 2“. Die Frage „Genesis oder Gabriel?“ macht wenigstens Spaß. Aber „Loggins oder Cetera?“ Näh.