Güner Künier: Master Nichtsnutz
Das Multitalent hat das konservative Elternhaus für emanzipatorischen Post-Punk verlassen

Eine der grundlegenden Weisheiten der Popkultur lautet: Um irgendwo anzukommen, muss man erst mal von irgendwo weggehen. Weg von der Familie, weg von den etablierten Strukturen, raus aus der Sicherheit. Das Video zu Güner Küniers „Excellent Choices“ schwelgt deshalb im lustvollen Chaos einer bewussten Entscheidung.
Während im Hintergrund Autoscooter durcheinander rasen, Häuser in sich zusammenfallen und Feuerbälle explodieren, feiert die Künstlerin mit ihren Freundinnen das süße Lotterleben von Neukölln. Alle rauchen, saufen und schieben sich genüsslich Pizzastücke in den Mund. Die Synthie-Beats krachen dazu wie einstürzende Überlandleitungen, der Gesang ist extrem verzerrt. Ein Riotgirl zwischen Post-Punk und Electroclash.
Sehnsuchtsort Berlin
Doch halt, ganz so einfach ist die Geschichte der türkischen Musikerin und Sängerin Güner Künier auch wieder nicht. „Yaramaz“ heißt ihr soeben erschienenes zweites Album, was ins Deutsche übersetzt so viel wie „Nichtsnutz“ bedeutet. „Wenn ich mit meinem Vater telefoniere, benutzt er oft dieses Wort und fragt mich, ob es Ärger gibt“, sagt die in der Türkei geborene, aber in Flensburg aufgewachsene Künier. „Weil er mich das immer wieder gefragt hat, begann ich mich mit dem Wort zu identifizieren. ‚Yaramaz‘ ist positiv, aber auch negativ, und das hat mir schon immer gefallen.“
Flensburg ist eine provinziell verschlafene Stadt, die eher konservative türkische Community bleibt gern unter sich, Werte wie Heiraten und Kinderkriegen haben hier einen hohen Rang. Klar, dass Güner schon früh Ausstiegspläne schmiedete. „Ich war damals ein superunsicheres Würmchen und musste mich von meinem Elternhaus emanzipieren“, sagt sie – und studiert Wirtschaftsingenieurwesen, zunächst im holsteinischen Heide, dann aber bald darauf im Sehnsuchtsort Berlin. „Das Argument, ich studiere und muss deshalb an die Uni in Berlin, war für mich ein unschlagbares Alibi.“
Nach erfolgreichem Master-Abschluss widmet sich Güner Künier voll und ganz der Musik. 2021 veröffentlicht sie ihre Debüt-EP, ein Jahr später das erste Album, „Ask“, wo Post-Punk, Psychedelic und türkische Einflüsse eine aufregende Mischung eingehen. „Yaramaz“, das auf dem Stereo-Total-Label Flirt 99 erscheint, ist nun in Sachen Songwriting und Umsetzung perfekt auf dem Punkt, zeigt, dass es der Künstlerin ernst ist. Beim vorwärtsstürmenden Synth-Wave von „Eyeshadow“ setzt sich Künier mit dem eigenen Anderssein auseinander und erzählt von den Kämpfen, die das mitunter erfordert. Es steckt viel Haltung in dieser Musik und der Art, wie sie präsentiert wird. Das tolle Album hat sie komplett im Alleingang gewuppt – einfach weil sie es kann.