Madonna: „In den besten Jahren“ – Das ROLLING STONE-Interview

Seit 30 Jahren provoziert Madonna. Mit Sex, Style, Symbolen – und nun mit ihrem Alter. Ein Hausbesuch von Brian Hiatt.

Vor Jahren wurden Sie einmal gefragt, wie Sie sich selbst als Mutter sehen, und Sie sagten: „Sehr liebevoll, aber vermutlich auch ziemlich dominant.“

Aber was genau heißt denn hier „dominant“? So etwas wie die Mutter der Kompanie? Aber welche Mutter ist das nicht? Ich bin in ihrem Leben sehr engagiert und habe ausgeprägte Meinungen. Aber meine Tochter hat sich gerade aufs College verabschiedet – und in diesen Situationen lernt man auch, wie man ein Kind loslässt. Ich kann sie nicht länger „dominieren“, sie kann tun und lassen, was sie will – und diese Erfahrung hat mir sicher auch geholfen, weniger dominant zu sein.

Anders als bei vielen anderen Kreativen scheint Ihre selbstzerstörerische Ader nur wenig ausgeprägt.

Jeder hat eine selbstzerstörerische Ader, ob man sich ihrer bewusst ist oder nicht. Man muss kein Popstar sein, um ein Gefühl für Zerstörung und Selbstzerstörung zu entwickeln. Aber Selbst-Zerstörung ist auch Selbst-Besessenheit – und Selbst-Besessenheit ist überhaupt nicht denkbar, wenn man damit beschäftigt ist, Kinder großzuziehen. Darüber hinaus: Wer so etwas wie ein spirituelles Leben führt, wird ständig daran erinnert, sich selbst nur als Mosaikstein eines großen Puzzles zu verstehen. Auch die Einsicht, dass man seinen individuellen Beitrag für die Menschheit leisten sollte, dass man sich in Leute hineinversetzen sollte, die so viel weniger haben als man selbst – all das gibt dem eigenen Leben schon eine gewisse Perspektive.

Einige Songs auf Ihrem neuen Album drehen sich um die spirituelle Suche – in anderen geht es nur ums Ficken.

Sie haben gerade ein schlimmes Wort gesagt! Und davon abgesehen: Stimmt das denn überhaupt? Ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht sollten Sie die Songs nicht zu wörtlich nehmen.

Okay.

Können Sie vielleicht etwas konkreter werden, wie Sie zu diesem Eindruck gekommen sind?

Na ja, es gibt zum Beispiel einen Song namens „S.E.X.“ – und „Holy Water“ spielt offensichtlich auf Oralsex an.

Wann immer ich über Sex schreibe, mache ich das augenzwinkernd. Ich glaube, das ist der Punkt, in dem mich die Leute immer falsch verstehen. „Holy Water“ ist ganz offensichtlich einfach lustig.

Ich finde es jedenfalls bemerkenswert, dass Sie introvertierte Songs gleich neben sexuell sehr explizite stellen.

Ursprünglich wollte ich auch zwei Alben machen. Auf dem einen sollte all meine provokante, Grenzen überschreitende Störenfried-Musik sein, während das andere meine romantische und verletzlichere Seite zeigen sollte.

Sie wollen also demonstrieren, dass man sich auf eine spirituelle Reise begeben und gleichzeitig …

… Interesse an Sex haben kann?

So könnte man es ausdrücken. Aber Sie sind auch in der Lage, darüber zu singen und …

… und warum nicht? Einmal mehr möchte ich die gängige Meinung widerlegen, dass man nicht beides machen kann oder dass deine Persönlichkeit nur aus einer einzigen Charaktereigenschaft besteht. Es gibt kein Gesetz, das es einem verbietet, ein spiritueller und sexueller Mensch zu sein. Außerdem: Wenn man sich im entsprechenden Bewusstseinszustand befindet, ist Sex sogar so etwas wie ein Gebet, like a prayer. Es kann eine göttliche Erfahrung sein. Warum also sollte man die beiden Bestandteile auseinanderreißen?

Wenn es ein Thema gibt, das Sie und Prince gemein haben, dann ist es diese Vermischung von …

… Sexualität und …

… Spiritualität, genau. Als Sie gerade „like a prayer“ sagten: War das eine bewusste Anspielung?

Nein, das kam einfach so raus, aber mir ging durch den Kopf: Hoppla, ich habe gerade einen meiner eigenen Songs zitiert. Wie cool. Mit dem Lehrer, bei dem ich jahrelang die Kabbala studierte, habe ich oft über Sex diskutiert. Mit einem muslimischen Lehrer habe ich auch den Islam studiert, weil ich den Koran verstehen wollte. Und im Alten Testament, genauso wie im Koran, ist Sex keinesfalls etwas Negatives. Es gab und gibt religiöse Bewegungen, die Sex zu einem Akt der Sünde machen wollen. Ich habe immer versucht, die Leute vom Gegenteil zu überzeugen: dass es eben nichts ist, wofür man sich schämen sollte.

Sie haben früher einige Tiefschläge einstecken müssen, weil Sie den öffentlichen Diskurs in diese Richtung bewegt haben. Dinge, die vor Jahren noch provokant waren, werden heute gar nicht mehr groß registriert.

Man erinnere sich nur an die Reaktionen, als „Truth Or Dare“ erschien. Inzwischen hat jeder seine Reality-Show – und niemand regt sich mehr auf. Und wie viel Müll musste ich schlucken, als mein „Sex“-Buch erschien – und heute echauffiert sich niemand über Kim Kardashian. Es ist schon verrückt, aber anscheinend musste ich erst mal den Sündenbock spielen.

Inwieweit bekennen Sie sich zum jüdischen Glauben? Ist das überhaupt ein Label, das zu Ihnen passt?

(Lacht) Nein, ich gehöre keiner religiösen Gemeinschaft an. Ich kann mich mit den verschiedenen Ritualen der Religionen anfreunden, ich sehe auch die Verknüpfungen zwischen den Religionen, aber zum Judaismus konvertiert bin ich nie. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich mich jahrelang mit der Kabbala beschäftigt habe – und insofern praktiziere ich vielleicht einige Dinge, die man gemeinhin mit dem Judentum in Verbindung bringt. Ich höre jeden Samstag die Thora, halte den Sabbat ein und spreche bestimmte Gebete. Mein Sohn hat seine Bar-Mizwa gefeiert. Insofern mag es so aussehen, als wäre ich jüdischen Glaubens, aber tatsächlich sind es Rituale, die mit dem in Verbindung stehen, was ich „Tree of life“-Bewusstsein nenne. Und das geht auf die Israeliten, also auf die Zeit vor dem Judentum zurück. Die Zwölf Stämme Israels existierten schon, bevor eine jüdische Religion entstand. Man muss sich also schon ein bisschen mit der Geschichte beschäftigen …

Also bin ich nun eine Jüdin oder nicht? Einige Leute würden sagen: Sie macht viele Dinge, die Juden machen – worauf ich antworten würde: Ich mache viele Dinge, die bereits vor dem Judaismus existierten. Und ich glaube, dass das, was ich praktiziere, mich mit etwas verbindet, das über die Religion hinausgeht – etwas, das Judaismus, Christentum und Islam in sich vereint.

Immerhin tragen Sie ein Kreuz.

Ich mag Kreuze. Ich hab eine sentimentale Ader für Jesus am Kreuz. Jesus war Jude, aber er war auch ein Katalysator. Ich glaube, dass er Leute vor den Kopf stieß, weil er predigte, dass man seinen Nachbarn lieben solle wie sich selbst. Was letztlich nichts anderes besagt, als dass niemand besser ist als der andere. Seine Liebe schloss alle Menschen ein, ob sie nun Bettler oder Prostituierte waren. Und er tadelte einen Teil des jüdischen Establishments, weil es nicht die Gebote der Thora befolgte. Er rüttelte also an einer ganzen Menge Ketten.

Ein „rebel heart“ sozusagen.

Er war im Grunde seines Herzens ein Rebell, keine Frage.

Können Sie mir Kanye West erklären? Er hat ja einen Song Ihres neuen Albums koproduziert.

Er ist ein heiliger Verrückter, er kann einfach nicht anders. Er hat auch nicht die gleichen Filter, die andere Menschen haben. Die Sachen brechen einfach aus ihm heraus, er gibt ständig unpassende Dinge von sich. Aber er hat im Studio auch brillante Ideen – wenn man ihn dazu bewegen kann, sich lange genug auf eine Sache zu konzentrieren. Er kam und ging. Er trieb mich in den Wahnsinn, weil er so viele Dinge gleichzeitig macht.

Irgendwie war das wohl das Leitmotiv des ganzen Albums: mit Leuten zu arbeiten, die ihr Handy nicht abstellen können, nonstop Tweets absondern, nicht konzentriert einen Song zu Ende bringen können. Es trieb mich auf die Palme. Ich hatte das Gefühl, ständig mit einem Schmetterlingsnetz herumlaufen zu müssen. Aber ich glaube auch, dass das Musikgeschäft jemanden wie ihn dringend braucht, weil alle nur noch auf Nummer sicher gehen und so furchtbar politisch korrekt sind. Ich bin nicht immer einer Meinung mit ihm, ich mag auch nicht immer seine Musik, aber der Mann ist ein wundervoller Chaot. Ich liebe ihn.

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