Jessie Reyez: „Ich denke jeden Tag übers Sterben nach“
Jessie Reyez spricht im Interview mit dem ROLLING STONE über Spiritualität, Frausein in der Musikbranche, amerikanische Migrationspolitik – und den Tod.
Als an einem Freitagabend in der Berliner Huxleys Neue Welt die Bühnenlichter ausgehen und sich Applaus im Widerhall des Saals in der Hauptadt mit den Rufen und Pfiffen der Fans verwebt, leuchtet Jessie Reyez unter den Scheinwerfern ein letztes Mal auf. Ihr weißes Sommerkleid gegen ihre langen pechschwarzen Locken und ebenso schwarzen ledernen Plateaustiefel – für einen Moment verdeutlichen sie die Gegensätze zwischen Unschuld und Rebellion, Eleganz und Furie. Wenige Minuten später, in den hohlen Gängen hinter der Bühne, muss sich die kanadische Sängerin Tränen der Rührung aus dem sonst eher trotzig verschmitzten Gesicht wischen, hatte sie sich eben noch bei einem Fan bedankt, den sie bei den letzten zehn Shows, von den USA über den Atlantik bis in den Berliner Herbst, jedes Mal in der ersten Reihe erspäht hat.
Für Jessie Reyez, 34 Jahre alt, kanadische Singer-Songwriterin, sind Konzerte so wichtig wie der Schaffensprozess im Studio. „Aber das Studio ist ein heiliger Ort, an dem man etwas aus dem Unmanifestierten heraus erschafft und etwas in die Welt bringt, das vor einer Stunde noch nicht existiert hat. Und gleichsam fühlt es sich auch bei Konzerten an, als würde man Erinnerungen aufbauen. Es ist sehr symbolisch“, sagt Reyez und schlägt die gebräunten Beine lässig auf der Ledercouch im Backstage-Bereich übereinander.
Der Minutenzeiger auf der alten Plastikuhr nähert sich Mitternacht, doch Reyez ist nach ihrem Auftritt hellwach und nicht weniger energiegeladen als Stunden zuvor. „Ich bin präsent, und meine Fans sind es auch – in dem Moment erschaffen wir gemeinsam Realität. Ich liebe es, wenn mir die Gelegenheit geschenkt wird, im Moment präsent zu sein. Macht man einen Fehler, geht es einfach weiter. Und läuft es großartig, geht es ebenfalls einfach weiter. Ich liebe die vergängliche Natur der Bühne.“
„Ein ganzer verdammter Hexenkessel voller Lebenserfahrungen“
Bühnenmomente mögen vergänglich sein, ihre Karriere hingegen, und das scheint Reyez selbst hin und wieder zu überraschen, scheint sie inzwischen beständig fortzuführen. In Toronto als Kind kolumbianischer Einwanderer geboren, begann Reyez schon in der Schule, Musik zu schreiben. 2017 veröffentlichte sie ihre erste EP „Kiddo“, 2019 folgte die zweite EP „Being Human in Public“ sowie zwei Kooperationen mit Eminem auf dessen Album „Kamikaze“. Ein Jahr später kam sie erneut mit Eminem zusammen – für einen gemeinsamen Song auf ihrem Debütalbum „When Love Came to Kill Us“. Inzwischen hat sie mit Sam Smith, Lil Wayne und 6lack zusammengearbeitet, war mit Billie Eilish, Halsey und Jhené Aiko auf Tour – und hat nicht zuletzt im Mai dieses Jahres ihr drittes Studioalbum „Paid in Memories“ veröffentlicht. „Das Album erzählt von Wachstum, von Reflektion, eine Geschichte dessen, seine eigene Menschlichkeit in Liebe auszudrücken. Es ist eine Geschichte von Herzschmerz, von Familie und Kummer. Von Aufblühen, von Ruhe, von Freude“ sagt Reyez über das Album, und geht einen Moment in sich. „Es ist ein ganzer verdammter Hexenkessel voller Lebenserfahrungen.“
Im Moment präsent sein
Erinnerung als Währung, das ist die Idee hinter dem Album, die Reyez auch als Lebensprinzip umzusetzen versucht. „Ich tue mein Bestes, das als meinen Nordstern zu nehmen, nicht nur auf der Bühne – auch im Leben. In der Art und Weise, wie ich mit meiner Familie interagiere, mit der Natur“, sagt sie, und hebt ihre Stimme, um gegen das Rauschen von Gesprächen, das aus dem Flur hineindringt, anzukommen. „Ich versuche immer, so präsent wie möglich zu sein“ – sie unterbricht sich selbst, dreht sich irritiert um, und bittet ihren Manager, die Tür zu schließen. „Das ist, was ich meine. Ich versuche, meine Aufmerksamkeit auf den Moment zu fokussieren, sodass ich mein Bewusstsein so konzentriert wie möglich versammle. Das ist der beste Weg, das Leben anzugehen.“
Im Moment präsent sein, hofft die Künstlerin, können auch ihre Fans während der Show. Den Saal glücklicher zu verlassen, als man ihn betreten hat, hat sie als Regel direkt zu Beginn des Konzerts eingeführt. Sich lebendig zu fühlen, soll in Reyez‘ Welt aber kein sentimental beladenes Freitagabend-Hobby für Instagram-erzogene Wohlfühl-Suchende sein. Vielmehr scheint es Reyez um die geballte Kraft der Suche nach einer erfüllten, brutal als flüchtig erkannten Existenz zu gehen. Und so sind auch manche ihrer Songs und ihre Bühnenperformance von einem Memento Mori angehaucht, durch das ihre leichtfüßigen Popmelodien denselben Ernst in sich tragen wie etwa eine Stadt durch ihre Friedhöfe.
„An den Tod zu denken, ist für mich ganz natürlich“
Denkst du viel über den Tod nach?, frage ich sie. „Jeden Tag“, antwortet sie mit nebensächlicher Selbstverständlichkeit und streicht gedankenverloren die Falten auf ihrem Kleid glatt. Filigrane bunte Blüten auf weißem Stoff, eine zartrosa Schleife im Ausschnitt, und darüber, eine schwere Goldkette um den Hals. „Ich denke jeden Tag übers Sterben nach. Ich hatte das Glück, von einer Mutter großgezogen zu werden, die Spiritualität immer an unserer Seite hielt. Und das lässt den Vorhang zur anderen Seite sehr dünn werden“, meint Reyez.
Sie wuchs in einem Haushalt auf, sagt sie, in dem jeden Tag Dank dafür ausgesprochen wurde, wie heilig das Leben ist. „An den Tod zu denken, ist für mich ganz natürlich“, meint sie, und zuckt mit den Schultern. Die Idee des nahenden Todes fand ihren Weg auch in ihr Debütlbum „Before Love Came to Kill Us“. Es sollte ein Katalysator sein, um die Menschen an die Natur des Lebens zu erinnern – und daran, dass der Tod unausweichlich sei, meint sie. Weil die Mehrheit der Menschen auf Autopilot durchs Leben gehe.
Reyez erzählt Geschichten einer Frau
Jessie Reyez geht mit einem Sinn für Spiritualität, Familie und Charakter durchs Leben, der auch in der kolumbianischen Kultur tief verwurzelt ist. Sie habe früh gelernt, sie selbst zu sein, zu sich zu stehen und sich frei und kreativ auszudrücken – frei von den Urteilen anderer Menschen. Das ist, so ist sie überzeugt, gerade als Frau nicht selbstverständlich. Und es sind die Erfahrungen der Frau, die das Herzstück ihrer Musik bilden und denen sie durch ihre Songtexte eine Stimme gibt. Eine Stimme, die, so zeigt es die mehrheitlich weibliche Menge in Huxleys Neuer Welt, danach schreit, gehört zu werden.
Ihre Songs erzählen davon, sagt Reyez, wie es ist, in dieser Welt eine Frau zu sein: „Von dem Moment, wenn man in die Pubertät kommt und merkt, dass die Welt dich anders anschaut. Von der Erfahrung, wenn man in einem kurzen Rock über die Straße läuft und das Gefühl hat, eine Millionen Dollar in der Tasche zu haben. Davon, in einer Runde zu stehen, in der jeder Mann vorgestellt wird, und übersprungen zu werden. Sich an seine eigene Macht und sein Selbstbewusstsein zu erinnern und laut zu sagen, hallo, freut mich, euch kennenzulernen. Davon, jemandem Respekt beizubringen“, sagt Reyez. „Von der Erfahrung, Weisheit von älteren Frauen zu empfangen. Von der Erfahrung, eine erwachsene Frau zu sein und ein junges Mädchen zu sehen, das drauf und dran ist, erwachsen zu werden und noch nicht weiß, dass das Krieg bedeutet – dass man sie so gerne warnen möchte, sie vorbereiten möchte, aber nicht ihre Unschuld nehmen möchte. Davon, dass man weiß: Es ist ein steiler Pfad, aber sie wird es schaffen.“
Mehr Frauen an die Macht
Davon erzählen Songs wie „Cudn’t be me“, „Figures“ oder „Beggin 4 luv“ ein Lied. Jessie Reyez verkörpert weibliche Selbstermächtigung, feminine Widerstandskraft und die Tatsache, dass Geschichten der Frauen mit einer starken Nadel gewebt sind. Und nicht zuletzt, dass kreative Räume und Communities wie an einem Freitagabend in Huxleys Neuer Welt kleine Schritte in Richtung nötiger Veränderung sind.
Jessie Reyez wünscht sich mehr Frauen an der Macht – weil sie es schlicht und einfach besser könnten. „Die feminine Essenz beinhaltet Fürsorglichkeit. Wir Frauen neigen natürlicherweise zu mehr Empathie und zu weniger Gewalt“, findet Reyez. „Es sind so viele Männer an der Macht, und wir kämpfen in so vielen Kriegen, und das hängt zusammen. Wenn Frauen an der Macht wären, hätten sie ein viel stärkeres Gefühl dafür, wen sie gerade in den Krieg schicken. Nämlich ihre eigenen Kinder. Nicht, dass Väter das nicht so empfinden, das will ich gar nicht unterstellen. Aber ich denke, dass das männliche Ego eher zu Aggression neigt.“
Reyez weiß dabei besser als viele andere, was es heißt, als junge Frau in der Musikindustrie Erfolg zu suchen. 2017 veröffentlichte sie den Kurzfilm „Gatekeeper“, der Sexismus und Ausbeutung in der Musikindustrie thematisierte. Er basierte insbesondere auf ihren Erfahrungen mit dem Musikproduzenten Noel „Detail“ Fisher, der von mehreren Frauen, darunter der Künstlerin Bebe Rexha, des sexuellen Fehlverhaltens und der Vergewaltigung beschuldigt wurde. Im Vergleich zu 2017 fühle sie sich als Frau in der Musikindustrie heute sicherer, sagt sie. „Wir sind auf einer Ebene angekommen, auf der Menschen Scham dafür empfinden, und das gab es vorher nicht. Der Trend geht in die richtige Richtung. Wenn nur eine die Stimme erhebt, kann es zu einer Welle werden. Das zerstört meinen Ruf? Fuck you.“
„Ich habe auf Spanisch gelernt, zu lieben“
Aber Reyez beobachtet auch mit Sorge, wie sexuelles Fehlverhalten zumindest in den USA auf politischer Ebene in letzter Zeit normalisiert wird. Und der Migrationspolitik der USA unter Donald Trump steht sie mit Entsetzen und Empörung gegenüber. Sie halte nichts davon, als Musikerin unpolitisch zu sein, rief Reyez während des Konzerts in die jubelnde Menge. Während ihrer USA-Tour in den vergangenen Wochen ließ sie ihre Fans „Fuck ICE“ im Chor rufen, heute machte sie daraus „Pure Love“, weil sie, wie sie sagt, in einem Gespräch mit ihrer Mutter zu dem Schluss gekommen sei, mehr Spaltung sei ja schließlich auch nicht die Lösung.
Aber als kolumbianische Tochter fühlt sie mit all denjenigen mit, die in den USA nun in täglicher Furcht vor Deportation leben müssen. Denn ihre lateinamerikanische Abstammung trägt sie mit Stolz. „Latinos und Latinas lieben wärmer. Wir sind leidenschaftlicher, unsere Liebe ist fester. Und das kommt in meiner Musik heraus“, sagt Reyez. „Ich habe auf Spanisch gelernt, zu lieben.“
Den Razzien der Einwanderungspolizei, den zahllosen Verhaftungen und Abschiebungen Menschen lateinamerikanischer Abstammung – oder bloß lateinamerikanischer Lesart – in den USA sieht sie daher mit großer Sorge entgegen. „Ich wäre blind, wenn ich nicht besorgt wäre. Aber von meiner Mutter habe ich auch eine Neigung zur Einheit gelernt. Wir müssen Empathie zeigen, um Brücken zu bauen“, meint Reyez.
Utopisch, aber richtig: Empathie ist die Lösung
Als sie im Teenageralter mit ihrer Familie von Kanada in die USA emigriert sei, habe der bürokratische Vorgang 16 Jahre gedauert. „Leute müssen verstehen, dass man privilegiert ist, wenn man in einem Land geboren ist, das keine Gewalt oder politisch Unterdrückung erlebt. Leute sagen immer gerne, Immigration ist okay, aber macht es richtig, auf dem rechtlichen Weg. Stell dir vor, du und deine Familie fliehen vor Gewalt – wartest du 16 Jahre?“, fragt Reyez. „Manche Menschen haben nicht genug Empathie, um zu verstehen, dass nicht alle Menschen gleich privilegiert sind. Und das führt zu Hass. Es ist vielleicht utopisch, aber ich glaube daran, dass man allen Menschen gegenüber Empathie zeigen kann, und damit Hass und Spaltung überwinden kann. Emotionale Bemühung kann Berge versetzen.“
Und das hat Jessie Reyez mit ihrem Konzert in Berlin an diesem Freitagabend in Huxleys Neuer Welt gezeigt, welches nicht nur ein Abend der Musik, sondern auch von Toleranz, Befreiung und Akzeptanz war. Und als die Fans die aufgeheizte Halle des Huxley verlassen und in die kühle Berliner Nachtluft treten, gehen sie mit einem klein wenig leichteren Herzen in die Nacht, als sie es betreten haben. Das haben sie Jessie Reyez schließlich versprochen.