John Lennons „Rock’n’Roll“: Still crazy after all these years

Es war einmal ein Verlorenes Wochenende: Wie John Lennon versuchte, in Los Angeles eine Platte mit Phil Spector aufzunehmen, eine Liebe durch einen andere zu ersetzen und einen Geschäftemacher zu befrieden: die Geschichte von "Rock'n'Roll"

Als John Lennon im Herbst 1973 nach Los Angeles zog, wusste er noch nicht, dass sein Verlorenes Wochenende begonnen hatte. Yoko Ono hatte ihn mit ihrer Assistentin May Pang verkuppelt, einer 23-Jährigen, die früher in den Büros von Apple arbeitete und zuletzt in John und Yokos Wohnung im Dakota Building das Büro führte und Dienstmädchenaufgaben erfüllte. Auf Yokos Anregung begannen die beiden eine Affäre – John mit wilder Entschlossenheit, May mit Zweifeln angesichts der Bizarrerie der Liaison. In Los Angeles bezogen sie zunächst die Villa des Musikproduzenten Lou Adler in Bel Air, der für eine Weile nicht zu Hause war. John hatte auch eine Idee für ein neues Album: Er wollte die Rock’n’Roll-Songs seiner Jugend aufnehmen – und kein Produzent schien dafür besser geeignet als Phil Spector, der mit seiner Frau Ronnie in einer Villa im spanischen Kolonialstil in Los Angeles lebte.

Spector war immer eifersüchtig gewesen, doch sein Verhalten hatte sich zur Paranoia ausgewachsen: Das Anwesen ließ er mit Alarmanlagen, Sicherheitsleuten und Wachhunden zur Festung machen, und Ronnie durfte das Haus täglich nur für eine halbe Stunde verlassen – unter der Bedingung, dass sie eine lebensgroße Phil-Spector-Puppe auf dem Beifahrersitz des Autos platzierte. In einem Schulterhalfter trug Spector eine Pistole. Seiner Schwiegermutter zeigte er im Keller einen Glassarg, der für den Fall vorgesehen war, dass Ronnie ihn verlassen sollte. Ronnie reichte die Scheidung ein.

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Lennon traf den dysfunktionalen Spector, um die Pläne für das Album zu besprechen. Spector fragte: „Wer hat das Sagen bei der Platte?“ John antwortete: „Du.“ Spector bestand darauf, die Musiker für die Session selbst zu mieten. Es vergingen Wochen, bis Lennon erfuhr, dass der von ihm gewünschte Toningenieur Roy Cicala (mit seinem Assistenten Jimmy Iovine), der Schlgazeuger Jim Keltner und der Gitarrist Jesse Ed Davis engagiert worden waren. Anfang November begannen die Aufnahmen in den A&M Studios, die früher das Gelände von United Artists gewesen waren. May und John waren überrascht, als sie im Studio A statt der erwarteten Band von acht Musikern nicht weniger als 27 Musiker versammelt sahen, darunter José Feliciano, Leon Russell und Steve Cropper. Spector torkelte mit seinem Leibwächter ins Studio, begrüßte alle Anwesenden und schnauzte: „Los, aufbauen!“ Als die Vorbereitungen getroffen waren, spielte er auf der Gitarre die Melodie von „Bony Moronie“, verschwand dann in der Aufnahmekabine und ließ sechs Stunden lang Rhythmusgruppe und Bläser aufspielen. Erst um drei Uhr morgens kam Lennons Gesangspart.

Am zweiten Abend erschien Spector betrunken in einem Arztkittel samt Stethoskop und dirigierte die Aufnahmen zu „Angel Baby“. John hatte eine Flasche Wodka mitgebracht und besoff sich mit Jesse Ed Davis, bis er um zwei Uhr morgens seinen Gesang beisteuerte. Nach Darstellung von Davis stürmte John auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund. Davis erwiderte den Kuss, woraufhin John „Schwuchtel!“ schrie. Auf der Rückfahrt zu Lou Adlers Haus wurde er von May getrennt, die in einem anderen Auto fuhr, und drohte tobend damit, die Scheiben einzuschlagen; bei der Villa angekommen, wurde John von Spectors Leibwächter ins Schlafzimmer geschleppt und mit Krawatten an den Bettpfosten gebunden. Phil Spector verließ die Villa und sagte zu May Pang: „War das nicht eine tolle Session?“ Dann gelang es John, sich zu befreien, er stürzte die Treppe hinunter und ging auf May los, die zum nahen Bel Air Hotel flüchtete, wo Lennon von dem Freund Tony King schluchzend und weinend gefunden wurde. „Niemand liebt mich“, barmte er.

John Lennon dachte an Titel wie „Old Hat“ oder „Gold Hat“

Die chaotischen Aufnahmen wurden fortgesetzt; Joni Mitchell erschien mehrfach im Studio (mal mit Jack Nicholson, mal mit Warren Beatty) und wurde von Spector beschimpft, der einmal auch mit seiner Pistole an die Decke schoss. Als der Scheidungsprozess gegen Ronnie begann, verschwand Spector mit den Tonbändern und weigerte sich, sie herauszugeben. Derweil veranstaltete John an einem Abend eine spontane Session mit Paul McCarney, Stevie Wonder und seinem neuen Freund Harry Nilsson, zog mit May, Ringo Starr, Klaus Voormann und Nilsson in ein Strandhaus in Malibu und kümmerte sich nicht mehr um die Platte.

Erst nachdem er 1974 nach New York zurückgekehrt war, interessierte sich Lennon wieder für die Aufnahmen aus Los Angeles, die Phil Spector mittlerweile ausgehändigt hatte. Der windige Geschäftemacher Morris Levy, der sich einst den Begriff „Rock’n’Roll“ patentieren lassen wollte,  hatte von Lennon verlangt, dass er drei Songs aus Morris‘ Katalog an Musikrechten verwenden müsse, weil das Beatles-Stück „Come Together“ sich offenkundig Chuck Berrys „You Can’t Catch Me“ verdankte. Lennon hatte zwar zugestimmt, aber nicht mehr daran gedacht. Nun traf er sich samt seinem Anwalt Harold Seider und May Pang mit Morris in dessen Restaurant. 90.000 Dollar waren bereits in das Album investiert worden – nun wollte Seider 200.000 Dollar aufwenden, um Morris abzufinden. Lennon erzählte anekdotenreich von den turbulenten Sessions mit Spector. Daraufhin schlug Morris vor, man solle das Album unter dem Titel „Roots“ im Fernsehen bewerben und per Mailorder verkaufen, wie es mit Oldies-Compilations gemacht wurde. Lennon war sofort begeistert und dachte an einen Titel wie „Old Hat“ oder „Gold Hat“.

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Allerdings waren May und er entsetzt von dem, was sie auf den Tonbändern hörten: Die meisten Stücke waren im Stupor von L.A. missglückt. Morris Levy schlug generös vor, Lennon solle die Stücke auf seiner Farm in New Jersey mit Session-Musikern aus Los Angeles neu einspielen. May Pang buchte die Flüge, die Cracks reisten nach New Jersey – und am 1. November lieferte Lennon die fertigen Bänder ab. Während Levy bereits das „Roots“-Album bewarb, erhob Capitol – immerhin Lennons Vertragspartner – erwartungsgemäß Anspruch auf die Veröffentlichung der Platte. Vor der Drohkulisse einer gerichtlichen Auseinandersetzung, die er sehr wahrscheinlich verlieren würde, zog der hartleibige Levy die Versandplatte „Roots“ zurück (nachdem bereits einige tausend Exemplare verkauft worden waren).

Nun übernahm Capitol/EMI, der alte Hut hieß „Rock’n’Roll“, und ein Foto von John Lennon, das Jürgen Vollmer 1960 in Hamburg aufgenommen hatte, wurde für das Plattencover ausgesucht. Von den Spector-Aufnahmen waren „Sweet Little Sixteen“, „You Can’t Catch Me“ und das notorische „Bony Moronie“ geblieben; von Peggy Sue“, „Do You Wanna Dance“ und „Rip It Up“ wurden die New-Jersey-Fassungen verwendet. Das erste Rock’n’Roll-Revival hatte schon mit dem Film „American Graffiti“ begonnen – aber für die Rockmusik war die Nostalgie des 34-jährigen John Lennon eine Pionierleistung. Sein „Stand By Me“ ist so ergreifend wie fünf Jahre zuvor „Mother“: der Schrei eines verlassenen Kindes. Er meinte May. Er meinte Yoko. Er meinte Mutter.

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