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Tagebuch der Trauer HHHH

von Roland Barthes

Das Schreckliche ist, was nicht ausgedrückt werden kann – weder durch Zeichen, Bilder, Gesten, noch durch Worte. Barthes‘ „Tagebuch der Trauer“ ist der Versuch, mit einem solchen Ereignis – dem Tod der eigenen Mutter – zurechtzukommen. Barthes perforiert in knappen Absätzen das Gefühl der Trauer, seine Ohnmacht und Hilflosigkeit, seine Wiederkehr und Dumpfheit. Nach und nach kulminiert der Kummer in einem Egoismus, in den sich der Trauernde verschließt.

Das Tagebuch, bestehend aus Notizzetteln, die Barthes zwischen 1977 und 1979 anfertigte, dient ihm als Inspiration für Vorlesungen und Buchprojekte. Ein Buch über Fotografie („Die helle Kammer“) behandelt explizit die verstorbene Mutter. Weil die Schrift unfähig ist, die Tote wieder lebendig zu machen, ähneln die Notizen mehr einer Liebeserklärung an – Proust ist allgegenwärtig – die verlorene Zeit. Was von Barthes‘ Mutter bleibt, ist ein Bild als kleines Mädchen und die Erinnerung an ihre Güte. Selbst im Todeskampf nimmt sie Rücksicht auf ihren Sohn, der Zeit seines Lebens bei ihr wohnte. „Du sitzt unbequem“, sorgt sie sich, während er ihr von einem Schemel aus Luft zufächert. Worte, die auch Unruhe des Trauernden meinen könnten oder den Leser, der – noch – das Glück und die Bürde hat zu leben. (hanser, 21,50 Euro) andreas walker

Friedhof der Beziehungen HHHH1/2

von Gunter Gerlach

Warum schreibt Gunter Gerlach? Warum schreibt sein Protagonist Georg Händel? Weil beide Menschen „lesen“ können. Ein paar Details, schon sieht man die Dinge baumeln, wie bei einem Mobile. Weil das so ist, arbeitet Händel als Ermittler und sucht den Serienmörder, der Frauenleichen auf Verkehrsinseln vergräbt, zu Hause zwischen den Computertasten. „Friedhof der Beziehungen“ ist kein herkömmlicher Kriminalroman. Krimipreisträger Gunter Gerlach führt sein Genre ad absurdum, schafft den Spagat zwischen der Mörderjagd auf Romanlänge und seinen skurrilen, oft surrealen Kurzgeschichten. Hier wird mehr gelacht als gezittert. Gerlach liefert Augenzwinkerndes über das Leben als Schriftsteller, sein Händel erfindet Romanfiguren, die dann ein Eigenleben entwickeln und sich in der Geschichte breit machen, bis es keine Grenzen mehr gibt zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Leben und Literatur. (ars vivendi, 14,90 Euro)

Frank Schäfer

Betteln, Borgen, Stehlen HHHH

von Michael Greenberg

Greenberg versammelt hier seine brillanten „Freelance“-Kolumnen aus dem „Times Literary Supplement“, in denen er unaufgeregt, belesen, sehr persönlich, aber doch uneitel von seinem Leben als freier Schriftsteller erzählt. Naturgemäß hat vieles darin Platz: seine monetären Probleme in den ersten Jahren, Brot- und Ghostwriter-Jobs, das widersprüchliche Leben als aufgeklärter Jude in New York, die Hassliebe zum aggressiv tatkräftigen Vater, für den die Schreiberei des Sohnes nicht nur Zeitverschwendung, sondern geradezu ein Affront darstellt, oder eine nächtliche Observation von seltenen Kreischeulen im Central Park. Die Texte changieren zwischen Reportage, Besinnungsaufsatz und autobiografischer Erzählung, und fast immer gelingt es ihm ohne Anstrengung, die individuelle Erfahrung, das besondere Ereignis ins Allgemeinmenschliche zu heben. In den letzten Geschichten reflektiert er, was er eigentlich tut, wenn er die Menschen aus seinem Umfeld schreibend porträtiert: Er stiehlt ihnen einen Teil ihrer Seele. Aber er macht das so taktvoll und mit einem solchen literarischen Mehrwert, dass man ihn dafür kaum verurteilen wird. (Hoffmann & Campe, 20 euro) Frank Schäfer

Nachteulen HHHH von Chuck Klosterman

Mit den Tücken des Kleinstadtlebens kennt Chuck Klosterman sich aus, das hat er schon bei seinen schrecklich liebevollen Jugenderinnerungen „Fargo Rock City“ bewiesen. Da ging es allerdings vor allem um seine Liebe zur Musik, der Rettungsanker fällt nun weg. Diesmal erzählt Klosterman von drei Menschen, die im Ort Owl gestrandet sind, ein paar Monate in den Jahren 1983/84 beschreibt er nur, und doch eine Ewigkeit. Die Lehrerin bekämpft ihre Einsamkeit mit spendierten Drinks, der Footballspieler philosophiert stumpf vor sich hin, der Alte hadert mit seinen Fehlern und Versäumnissen. Keiner muss je sein Auto abschließen, auch sonst droht wenig Gefahr, aber Klosterman ist zu schlau, um in Nostalgie zu schwelgen: Er weiß, dass das Unheil auch damals immer um die Ecke lauerte. Am Ende sterben auch Sympathieträger, einfach so, per Naturgewalt. Da kennt Klosterman keine Gnade. Und trotzdem ist das Buch eine weitere (oft auch lustige) Ode an das Nirgendwo, an die Monotonie der Tretmühle, an den so langweiligen wie tröstlichen Alltag, an die unendliche Trägheit. Wer sich bewegt, ist tot. Wer nicht, allerdings auch.

(S. Fischer,19,90 Euro) Birgit Fuss

Ein Sommer, der bleibt HHHH

von Peter Kurzeck

Wie schon in seinen ausgreifenden Kindheitsreminis- zenzen „Ein Sommer, der bleibt“ erzählt Kurzeck ohne Skript, aus dem Stehgreif, und so ist man als Hörer ganz unmittelbar Zeuge der allmählichen Verfertigung des Kunstwerks beim Sprechen. Dieses Mal ist es nicht mehr als eine Anekdote, die ein guter Kneipenplauderer in vielleicht fünf spannenden Minuten ausgebreitet hätte. Kurzeck, dieser begnadete Causeur, macht daraus eine abschweifungsreiche, pointillistische, mit untrüglichem Gespür für den richtigen Rhythmus gefügte, einmal mehr absolut berückende Geschichtsstunde. Nach einer Lesetour durch Deutschland reist er nach Avignon, um eine Freundin zu besuchen. Er sitzt schon im Nachtzug aus Straßburg, will sich noch kurz die Beine vertreten, und da fährt sein Zug ohne ihn los. Er lässt sich mit dem Taxi in den nächsten Bahnhof bringen, wo zwei hilfsbereite, zuvor informierte Beamte sein Gepäck aus dem Zug geholt haben und ihm übergeben. Die Anekdote liefert hier nur den Anlass, um Stimmungen und Atmosphären zu evozieren, von Straßburg in der Vorweihnachtszeit, von der vertrauten Fremde, vom Reisen allein, von der freudigen, ein bisschen auch bangen Erwartung, die ehemalige Geliebte wiederzusehen. Und es gibt kein besseres Medium dafür als Kurzecks ruhige, warmherzige, leicht dialektal gefärbte Diktion. (supposé, 16,80 Euro) frank schäfer

Special Edition

Hector Umbra HHHH von Uli Oesterle

Uli Oesterles atmosphärisch dichte und mit viel Lokalkolorit versehene Graphic Novel „Hector Umbra“ gehört unbestritten zu den besten Veröffentlichungen der jüngeren deutschen Comic-Szene. Kein Geringerer als „Hellboy“-Schöpfer Mike Mignola hat Osterle als Genie bezeichnet. Der durchgeknallte Thriller um den titelgebenden Helden, der auf der Suche nach seinem verschollenen Freund DJ Osaka Best von einem absurden Abenteuer ins nächste stolpert, überzeugt durch ein irrwitziges, düsteres und fesselndes Szenario. Angesiedelt ist die satirische, spannende und manchmal trashige Geschichte in einem unwirtlichen, zuweilen expressionistisch überzeichneten München, das so gar nicht dem Image der herausgeputzten Weltstadt mit Herz entsprechen will. Nicht einmal vor der Frauenkirche, einem der Wahrzeichen der bayerischen Landeshauptstadt, macht die Fantasie des Comicautors halt. In der Edition 52 erscheint nun der komplette Band in einer auf 150 Exemplare limitierten, mit einem neuen Cover versehenen Luxusausgabe. Jedem Buch liegt ein vom Autor signierter Vierfarbdruck bei, der bei Sammlern und Connaisseuren der neunten Kunst hoch im Kurs stehen sollte. (Edition 52, 49 euro) alexander Müller

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