Bob Dylan

Rough And Rowdy Ways

Smi Col (Sony Music)

Über den Rubikon: Das herzzerreißende musikalische Idyll „Rough And Rowdy Ways“

Wenn Großvater von der Vergangenheit erzählt, versammeln sich die Kinder und Enkel vor dem Kamin – oder sie kommen nicht mehr zu Besuch. Wenn der Großvater allerdings Bob Dylan ist, dann erzählt ein Art unzuverlässiger Weltgeist, der sich an die Dinge auf seine Weise erinnert.

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Vor allem erinnert er sich an Songschreiber und Lieder, an Dichter und Gedichte, an das Fluidum der Zeit, in der er jung war, an John F. Kennedy und Martin Luther King, an Frank Sinatra und Bud Powell, an Jimmie Rodgers und Jimmy Reed, an Orte und Generäle und Sprüche und Songtitel. Nicht so sehr anders als andere amerikanische Großväter, nur dass Dylan aus der Beiläufigkeit seines Gedächtnisses Songs schöpft, die klingen, als wären sie schon immer da gewesen.

„Murder Most Foul“ ist eine Platte für sich

Unter die Bewunderung für „Murder Most Foul“, Dylans Magna Charta, mischten sich schüchtern Stimmen, die sein hemmungsloses Namedropping als Malen nach Zahlen bekrittelten. „Murder Most Foul“ ist sozusagen die Rückseite des Albums „Rough And Rowdy Ways“, es ist eine Platte für sich. Die Aufzählungen und Anrufungen in diesem maßlosen Stück sind so läppisch wie lächerlich, so erhaben wie erlesen, so feierlich wie lustig, sie haben den Witz der Schurken- und Rüpelnummern in Shakespeares wüsten Dramen und die Ungebärdigkeit des Talking Blues.

Generationen von Gelehrten beugen sich über seine Lyrik, aber Bob Dylan tut so, als wäre alles mündliche Überlieferung. Er dreht allen eine Nase. Und zitiert den Ekstatiker Walt Whitman, der den neuen amerikanischen Mensch besingt, nämlich sich selbst: „I Contain Multitudes“.

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Am Anfang der Platte formuliert Dylan sein Programm: „I sing songs of experience/ Like William Blake/ I drive fast cars/ But I don’t eat fast foods/ I’m a man of contradictions, am man of many moods/ I play Beethoven’s sonatas, Chopin’s preludes.“ Er schildert also durch das, was er tut, wer er ist.

Kein „False Prophet“, so der zweite Song. Die sogenannte Frankenstein-Fantasie „My Own Version Of You“ ist eine herrlich romantisch-ironische Variation des alten Huts, dass man sich vom anderen ein Bild macht. In dem gemütlich schwelgerischen Liebeslied „I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You“ überquert der Erzähler die Berge und schwimmt durch die Seen.

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Ein verwitterter Odysseus singt mit stoischer Gelassenheit von den Zeiten, die er überblickt – und sein Blick reicht weiter zurück als zur Ermordung Kennedys, die mit seinem Auftsieg als Songschreiber zusammenfiel.

Verneigung vor großen amerikanischen Songwritern

„Rough And Rowdy Ways“ ist auch ein Epitaph für die Musiker, die Dylan vorausgingen: Der Titel ist „My Rough And Rowdy Ways“ entlehnt, einem Song von Jimmie Rodgers, dem singenden Bremser, Stammvater der Country Music, der binnen weniger Jahre die amerikanische Musik revolutionierte und 1933 mit 36 Jahren an Tuberkulose starb. Für seine letzten Aufnahmen wurde ein Krankenbett ins Studio geschoben. Der räudige Blues „Goodbye Jimmy Reed“ erinnert an den großen, aber wenig bekannten Songschreiber, dessen Lieder von Elvis Presley (und Hunderten anderen) gesungen wurden.

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Eine der Paradoxien des Albums ist der (scheinbare!) Widerspruch zwischen dem Titel und den behaglichen, klassizistischen, überhaupt nicht aufgedonnerten Songs. Manchmal denkt man an die Lieder, die in dem Film „From Here To Eternity“ (1953) auf Hawaii gesungen werden – ein Film, in dem Frank Sinatra spielt, der hier mit den eingeworfenen Topoi „In the wee small hours“ und „Only the lonely“ gewürdigt wird.

Die Ballade „Mother Of Muses“ schunkelt so beschaulich wie ein Song von Mark Knopfler, mit dem Dylan ja eine kurze, unglückliche Geschichte verbindet. „Crossing The Rubicon“ ist eines dieser sich auf- und abschwingenden, viel zu langen Pokerface-Blues-Stücke mit rostigem Gesang, die Dylan seit „Time Out Of Mind“ aus dem Ärmel schüttelt. Neben den Gitarristen Charlie Sexton und Bob Britt leistet Donnie Herron an Akkordion, Violine und Pedal Steel schier Fantastisches.

Das größte Stück dieser herzzerreißenden Platte hat der alte Fuchs sich für das Ende aufgehoben. „Key West (Philosopher Pirate)“ ist ein reines musikalisches Idyll, ein Mantra, eine Epiphanie: „Key West is the place to be/ If you’re looking for immortality.“ Noch einmal ist er auf der falschen Seite der Gleise geboren wie Ginsberg, Corso und Kerouac, er hört den Piratensender, die Verheißungen des Radios, und er liebt so sehr, dass er kaum noch sehen kann. Try a little tenderness. Walking in the shadows after dark. People tell me that I’m truly blessed.

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Wir haben verdammtes Glück, dass wir in denselben Zeiten leben wie dieser Großvater.