Frank Witzel :: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

Ursprünglich sollte die Rote Armee Fraktion den Namen Tupamaros von Biebrich tragen. Das klang der Schülerbande um den anonymen Erzähler in Frank Witzels berauschendem Romankoloss dann aber doch zu provinziell. So kam es zu dem Namen, unter dem ein Jahr später eine gewisse linksextremistische Terrorgruppe in Erscheinung trat und die Berühmtheit der Beatles erlangen sollte.

Gewalt und (Pop-)Kultur prägen nicht nur des Erzählers Erinnerungen an den Sommer 1969, sondern auch diesen aus der hessischen Provinz in die Republik ausstrahlenden Roman. Er beschreibt, wie und warum aus den kiffenden Hippies der Sechziger gewaltbereite Terroristen wurden, und erzählt dies parallel zur Ablösung der Beat- durch die Rockmusik. Wo gerade noch Peace, Love and Understanding regierten, triumphierte plötzlich der Lärm von RAF und Rolling Stones. Dieser kulturelle Wandel stürzt den Erzähler der unerschrocken irrwitzigen, 800-seitigen Achterbahnfahrt durch die bundesrepublikanischen Traumata in ebenjene. Noch während er sich an die Beatles klammert wie andere an die Heilige Römische Kirche, begehrt er gegen die Ideologie des Autoritären auf. Die Rebellion seiner Generation wendet sich gegen „das Weiß, das entsteht, wenn die Erinnerung reißt“. Sie zielt auf die bedrückende Kontinuität der deutschen Geschichtsschreibung nach dem 8. Mai 1945 und richtet sich gegen das beharrlich weiterregierende Dreigestirn aus Staat, Familie und Kirche.

Kadavergehorsam und kollektive Verdrängung der Kriegsgeneration trieben die Nachkommen in den Wahnsinn und auf die Barrikaden. Wohin das führt, reflektiert Witzels diffuser, nur bedingt als zuverlässig einzuordnender Erzähler aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Zeiten. Das Tape der Geschichte wird hier gewissermaßen ständig vor- und wieder zurückgespult, Kassetten werden gewechselt und alte Aufnahmen überspielt. Historische Fakten werden Teil dieser oft gleichnishaften Fiktion. Die Schilderungen des manisch-depressiven Teenagers wechseln sich ab mit Befragungsprotokollen des erwachsenen Erzählers oder dessen Bekenntnismonolog kurz vor seinem Tod und werden ergänzt durch historische Einschübe und philosophisch-musikalisch-religiöse Seitenblicke. Dabei psalmodiert er postmodern wie David Foster Wallace. Ein fulminanter, im besten Sinne größenwahnsinniger Roman.

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