Rio Reiser
„Rio I“ – König ohne Krone
Sony (VÖ: 21.2.)
Das Solo-Jahrzehnt: Rio Reisers Gesamtkatalog plus Hit-Sammlung auf Vinyl.
Am 9. Januar 2025 wäre Ralph Christian Möbius, genannt Rio Reiser, 75 Jahre alt geworden. Es gab ein kleines Gedenken am Rio-Reiser-Platz in Kreuzberg und eine große Musikrevue in der Berliner Volksbühne. Nun hat seine langjährige Plattenfirma CBS, heute Sony Music, seine sechs Soloalben wiederveröffentlicht. Dazu erstmals auf Doppelvinyl die Auswahl „König von Deutschland – Das Beste von Rio Reiser“. Seine Uptempo.Hits und Liebeslieder sind vielfach dokumentiert. „Junimond“ oder die rauchige Rockballade „Für immer und dich“ gelten eh als unsterbliche Klassiker des deutschen Liedguts.
Anhand der Abfolge der sechs Alben, von „Rio I.“ (4 Sterne, 1986) bis „Himmel und Hölle“ (4 Sterne, 1995), lassen sich Glanz, Gloria und auch Krise seiner Solo-Zeit nachhören. Reiser wechselte als desillusioniertes, verschuldetes Indie-Genie in die Strukturen der alten Plattenindustrie, wo man Radiohits landen und bei „Peter’s Pop Show“ auftreten musste. Er hatte anfangs keine Probleme mit dem Mainstream. In der TV-Show „Leute“ fragte Talkmasterin Elke Heidenreich mit schriller Vokuhila-Frisur ihren amüsierten Gast nach dem Verhältnis zu den alten Kampfgenossen: „Es gibt sicher welche, die mich nun als Verräter sehen, ja, die gibt es!“ Die Produzent:innen Annette Humpe und Udo Arndt verpassten seinen Songs aus der Scherben-Ära den nötigen PopSchliff. Der Rest entstand neu, wobei er auch später wiederholt auf früheres Material zurückgriff.
Unbefangen, überdreht und voller Energie
„Rio I.“ wirkt wie ein Befreiungsschlag. Unbefangen, überdreht und voller Energie. Zum funkigen Gitarren-Stakkato skandiert er „Lass mich los“. „Alles Lüge“ ist süffige Poprock-Action mit Sponti-Zeilen: „Es ist wahr, dass Hamburg nicht die Hauptstadt von McDonald’s ist!“ Sein feuriges Debüt setzt Maßstäbe. Danach herrscht Druck, den Charts-Erfolg zu wiederholen. 1987 folgt „Blinder Passagier“ (3 Sterne), und es ist zu hören, wie sich Reiser dem Hit-Schema verweigert. Er schreibt Tracks voller Sehnsucht, teils elektronisch begleitet, nicht alle haben die Zeit gut überstanden. Andere sind famose Zeitdiagnosen, wie etwa das zweifelnde „Wann?“.
Auf „***“ (3 Sterne, 1990) experimentiert er weiter. Synthie-Chansons statt rockige Powerhymnen. Sein Statement zum Untergang der DDR: „Zauberland ist abgebrannt/ Und brennt noch irgendwo.“ Er durchstreift das neue Deutschland und sieht in seiner Homosexualität weiterhin kein Thema seines künstlerischen Œuvres. Es blieb offen, aber privat. Auch 1991 ist er im Fluss. „Durch die Wand“ (3,5 Sterne) markiert eine Rückkehr zu rockigeren Klängen. „Jetzt schlägts dreizehn“ mit Bombast-Arrangement als Hit. „Krieg“ gehört zu seinen Highlights, eine beklemmende Abrechnung in Zeiten des Irakkriegs. Auf „Über Alles“ (2 Sterne, 1993) scheinen Reiser und Produzentin Annette Humpe die Pferde durchgegangen zu sein. Vielleicht sollte ja die Rave- und House-Kultur verarbeitet werden. Ein wenig Love Parade neben Polka und Westcoast und der Theater-Rock-Track „Irrenanstalt“ aus dem Live-Programm der Scherben. Orientierungslos.
Stark das Abschiedsalbum „Himmel & Hölle“ (3,5 Sterne), ein Ringen mit dem Leben und der bereits angeschlagenen Gesundheit, eingebettet in dramatische Rhythmen bei „Streik“, disruptive Tempowechsel in „Träume“. Ohrwürmer wie das großartige „Straße“. Zu „Hoffnung“ singt er ein Jahrzehnt nach „König von Deutschland“: „Nehmt mir die Krone ab, die mich erdrückt, nehmt mir die Krone weg, nehmt sie zurück. Ich weiß, irgendwo ist da ein Licht, doch ich kann euch nicht führen, denn ich weiß den Weg nicht.“ Es sind nur wenige Monate bis zu seinem Tod.
Diese Review erschien im Rolling Stone Magazin 3/25.