Kritik: „Das Schweigen der Lämmer“ – Die Lust des Kannibalen

Das Monster Hannibal, das wir lieben lernten: Thomas Harris' Klassiker „Das Schweigen der Lämmer“

Bücher sind meist besser als ihre Verfilmungen, womöglich gilt das selbst für die Kinofassung von „Das Schweigen der Lämmer“, die 1992 zu Recht, aber überraschend mit den fünf wichtigsten Oscars (Bester Film, Beste Regie, Bestes Drehbuch, Beste Hauptdarstellerin, Bester Hauptdarsteller) ausgezeichnet wurde.

Regisseur Jonathan Demme und Schauspieler Anthony Hopkins hatten die Figur des Hannibal Lecter verstanden, wie sie vielleicht kein Leser im Kopfkino sehen konnte: Der Serienmörder war nicht klassisch schön, er trug auch keine Brille. Er war besonnen, er war im erotischen Alter eines Fünfzigjährigen, der noch kein Fett ansetzte, vor allem war er undurchdringlich. Wenn er lächelte, bog sich die Lippenschnur nur leicht. Dass er im Kino wie Anthony Hopkins aussehen konnte, der kein A-Star war damals, das aber hätte keiner gedacht.

Er war auch kein kleiner Kasper, der vor allen Streiche spielen wollte, wie Brian Cox in der Rolle des Lecter aus Michael Manns „Roter Drache“-Verfilmung von 1986. Aus ihrer Figur der Clarice Starling machte Jodie Foster wiederum eine FBI-Schülerin, die nicht ganz so sehr Büffelnde im Wohnheim war, wie die aus Harris’ Roman („Mr. Crawford, bitte schicken sie mich nicht in die Schule zurück“). Auch sie hatte viele Fragezeichen im Gesicht, war aber patenter als alle anderen Cops.

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„Das Schweigen der Lämmer“ ist also nicht besser, aber heute berühmter als seine literarische Vorlage. Und doch ist Thomas Harris’ Erzählung, die vor 30 Jahren erschien, eine unabdingbare Lektüre. Lecter ist darin, viel konkreter als auf der Leinwand, ein Vater. Starling eine Tochter. Erst im Roman verstehen wir auch die Abscheulichkeit des Gefängnisleiters Dr. Chiltons, verstehen wir die Melancholie des Beamten und baldigen Witwers Jack Crawfords, für die in 138 Filmminuten weniger Raum war. Schade nur, dass der flüchtende Dr. Chilton im Nachfolger „Hannibal“ erfolgreich im Verborgenen bleiben darf, und an dessen Stelle des Scheusals der FBI-Mann Krendler. So mies trat Krendler in den „Lämmern“ noch gar nicht auf.

Und der Käfig, der Kubus aus Stahl, in dem Lecter in der Mitte eines Raumes gefangen gehalten wird, jener wie ein Altar herausgeputzter, perfekt ausgeleuchtete Käfig, danach aus unzähligen Serienmörder-Filmen (oder im Bond-Vehikel „Skyfall“) bekannt – von dem gab es auch in diesem Werk zum ersten Mal zu lesen. Das Gehege wurde zum Prototypen für Film-Räume, die kompromisslos klar machen sollten, dass ihr darin Gefangener der gefährlichste Bösewicht der Welt ist.

Das Schweigen der Lämmer: Rache für den Vater

Jodie Foster als Clarice Starling im „Schweigen der Lämmer“ 1991

„Clarice schläft tief, im Schweigen der Lämmer“, heißt es am Ende. Jame Gumb alias Buffalo Bill ist tot, sie hat ihn gekriegt, Hannibal Lecter lieferte den entscheidenden Hinweis. Mit dem abgeschlossenen Fall hat die FBI-Agentin, scheint es zunächst, ihr Kindheitstrauma abgelegt. Damals wurde ihr Vater, ein Wachmann, der es nicht zum Cop geschafft hatte, von Junkies auf seiner Patrouille erschossen. Er zog nicht schnell genug, die Waffe hatte sich verheddert. Ein trauriger Tod, nach Ansicht Hannibals ein peinlicher Tod.

Als Starling Jahre später Buffalo Bill erledigte, steckte dahinter der Wunsch, ihr Vater hätte das getan.

Roman und Film betreiben eine oberflächliche Psychoanalyse (Psychoanalyse ist eine „tote Religion“, findet Lecter). Wahrscheinlich ist das auch richtig, denn Ursachenforschung zerstört den Zauber des Bösen. Wenn „Hannibal“ die italienische Abenteurer-Geschichte ist und „Hannibal Rising“ das Pulp-Drama mit den SS-Werwölfen, ist dieses Buch ein Kammerspiel. Es sind die Recherchen, die die Ermittler auf die Spur führen, die vielen Gespräche. Das „Schweigen“ behandelt das „wie kommen wir zur Lösung?“ – die zwei Folgeromane ein „Wie kommen wir aus dem Schlamassel raus?“

Hannibal Lecter liebt Clarice

„Das Schweigen der Lämmer“ liefert auch eine Notiz, die mit Blick auf Roman und Film oft in den Hintergrund gerät: Dass schon der Titel die Suche nach Frieden in den Mittelpunkt rückt, von der Stille keine Bedrohung mehr ausgeht. Denn das Schweigen der Tiere auf der Farm Clarice‘ Vaters ist nicht auf deren Schlaf zurückzuführen, sondern auf ihre Schlachtung. Der Titel beschreibt eine Ruhe, der Tötung voranging.

Hannibal Lecter (Anthony Hopkins)

Die Liebesgeschichte, die im nächsten Harris-Roman, „Hannibal“ elf Jahre später, ihren Anfang nimmt, wird hier schon angedeutet. Nach seiner Flucht teilt er Starling den Aufenthaltsort nicht mit, er schreibt nur: „Einige unserer Sterne sind dieselben.“ Starling wehrt sich noch, denkt, ihr Überleben hängt mit der Tatsache zusammen, dass Hannibal sie noch nicht langweilig genug fände.

Im Gegenteil, sein Interesse an ihr findet sie pervers. Es sei schwer zu akzeptieren, dass einen jemand versteht, der, wie sie glaubt, einem nicht wohlgesonnen ist.

Sie weiß nicht, was Hannibal für sie empfindet, weil er sie, den „Bauerntrampel“ zunächst verletzen will. „Quid Pro Quo“, die berühmte Dialogzeile aus dem Film, die im Roman nicht existiert: Ich sage Dir was über mich, Du dafür etwas über Dich. Aber die letzten Worte vor dem Nimmerwiedersehen, die die zwei aneinander richten, Lecter sitzt da noch in seiner Zelle, sind: „Danke, Clarice“ – „Danke, Dr. Lecter“. Harris hätte den Welterfolg dieser Beziehung im Entstehungsjahr des Romans 1988 sicher nicht absehen können – und dass Agentin und Killer sich für den Fortsetzungsroman „Hannibal“ noch einmal sehen werden.

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Wie Thomas Harris, 77, zur Psychiatrie steht, ist wenig erforscht. Seit Jahrzehnten hat er kein Interview mehr gegeben. Vielleicht spricht Dr. Lecter aus ihm, wenn der seine Abneigung gegenüber Forschung zum Ausdruck bringt. Im Roman wird das noch deutlicher als im Film. Lecter ist ein Mann, für den die individuelle Bewertung zählt, so viel steht fest, vor allem, wenn er selbst untersucht werden soll: Wer ihn zur reinen Messdatum machen will, bekommt ein Problem. Qualitative Analyse ja, quantitative nein.

Seine Auffassung zur Forschungsmethode wurde, in abgewandelter Form, zu einem der berühmtesten Zitate des Kinos: „Einmal hat mich ein Volkszähler zu quantifizieren versucht. Ich habe seine Leber mit Faba-Bohnen und einem großen Amarone verspeist. Gehen sie zurück in die Schule, kleine Starling.“ Für Clarice sind psychologische Unterteilungen von Menschen fundamental, für ihn natürlich simplifizierend.

Lecter hasst den Behaviorimus, die Grundannahme, dass Verhalten erlernt ist. Er glaubt an das gegeben Gute und an das gegeben Böse. Wer den jungen Hannibal Lecter aus Harris’ letztem Buch „Hannibal Rising“ kennenlernt, kann dessen Glauben an Determinismus kaum nachvollziehen. Es sind seine furchtbaren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, die ihn prägen, das steht außer Frage. Thomas Harris hat hier entweder die Geschichte des späteren Kannibalen umgeschrieben – oder die Figur seines mörderischen Psychiaters verdrängt hier etwas. Was die Kriegswaise aber auf jeden Fall früh lernte: Es gibt keinen Gott. Als Erwachsener sammelt Lecter Berichte über Kircheneinstürze, bei denen die Gläubigen unter Schutt begraben werden. Für ihn die perfekte Ironie.

Harris verführte seine Leser wie wenige Autoren vor ihm, er schaffte Sympathien für eine Bestie, weil die Bestie half eine anderer Bestie zu erledigen. Lecter unterstützt Starling. Aber unser Mitgefühl für Hannibal Lecter hing auch mit dessen unfassbarer Intelligenz zusammen. Man ertappt sich beim unangenehmen Gedanken, wie schade es doch ist, dass ein Genie weggesperrt wird (auch, wenn es in der Geschlossenen gelegentlich noch den einen oder anderen wissenschaftlichen Artikel verfassen darf).

Penis eingeklemmt

Harris’ Serienkiller sind oft Menschen mit einer Sexualität, die von derjenigen der Mehrheit abweicht. Zu Recht wurde er für seine gelegentlich sensationsheischenden Darstellungen kritisiert (manchmal baut auch der deutsche Verlag Mist, in „Red Dragon“ wurde aus dem Mörder-Spitznamen „Tooth Fairy“ die „Zahnschwuchtel“). Im „Schweigen der Lämmer“ ist Jame Gumb ein Mann, der sich eine Geschlechtsumwandlung wünscht. Er tötet Frauen und häutet sie, weil ihm die Operation verweigert wurde.

Jame Gumb (Ted Levine)

Aus Jonathan Demmes Verfilmung ist vor allem die Szene im Gedächtnis geblieben, in der Gumb (Ted Levine) sich vor dem Spiegel aufbaut, seinen Penis zwischen den zusammengepressten Beinen versteckt, so tut, als sehe man nur eine Vulva, und zu den Klängen von „Goodbye, Horses“ tanzt („Clerks 2“ zeigt später eine Parodie davon, und den verstörenden Effekt, einen harmlosen Popsong mit Gewalt zu kontrastieren, haben später Tarantino und Fincher genutzt).

Harris gibt sich Mühe, Transsexuelle nicht zu stigmatisieren. Am Ende lässt er Ärzte sprechen, wissenschaftliche Fachzeitschriften berichten über Gumb, und in keinem Fach-Artikel tauchten Wörter wie „verrückt“ oder „böse“ auf.

Ein Mediziner bespricht mit Starling seine Einwände, Gumbs gestörte Psyche überhaupt mit Transsexualität in Verbindung zu bringen, er fürchtet eine Hexenjagd. Etwas steif, fast zum Mitschreiben, formuliert er Forschungsergebnisse: „Dies sind anständige Menschen mit einem echten Problem. Ein Zusammenhang zwischen Transsexualität und Gewalttätigkeit ist mir bisher noch nie untergekommen.“

Das Haus als Struktur der Psyche

Jame Gumb bleibt etwas im Verborgenen, im Roman wie im Film, Harris und Regisseur Demme wussten, dass die Figur des Hannibal Lecter das größere Spektakel bietet. Die letzten Worte des sterbenden Gumb sind so faszinierend wie unangenehm, er flüstert Starling zu, „Was ist es für ein Gefühl so schön zu sein?“

Gumb hat sich in einem dunklen, Labyrinth-artigen Haus eingerichtet, in dem er seine Opfer stundenlang jagen kann. Das Anwesen ist, ähnlich wie in Hitchcocks „Psycho“, wie ein Gebilde von Freud eingerichtet. Es gibt das obere Stockwerk („Über-Ich“, die Mutter), das Erdgeschoss („Ich“) und den Keller, wo buchstäblich die Leichen liegen („Unbewusste“). Mit jedem Mord wächst sein Selbstvertrauen. Seine Bedürfnisse will er irgendwann nicht mehr in den entlegenen Bereichen seines Kellers befriedigen.

Thomas Harris (li.) bei einem seiner seltenen Auftritte, hier bei der „Red Dragon“-Premiere. Mit Regisseur Brett Ratner, Ron Meyer und Produzent Dino De Laurentiis 2002

In der heutigen Zeit des Deep Web bzw. Dark Net gibt es Foren für jede Art kriminellen Tuns, aber 1988 waren Geheimbünde wahrscheinlich schwieriger organisiert. Es ist eine Kunst, wie Thomas Harris, quasi beiläufig, von den Gleichgesinnten Gumbs berichtet, die seine Hautkostüme bewundern: „Er weiß von Orten, Kreisen, wo seine Bemühungen sehr bewundert würden – es gibt gewisse Jachten, auf denen er sich herausputzen könnte.“

Als Vorbild für Hannibal Lecter, schrieb Harris in einem Vorwort zur Neuauflage von „Das Schweigen der Lämmer“ 2013, seiner ersten schriftlichen Notiz zum eigenen Werk seit vielen Jahren, diente ein in Mexiko inhaftierter Arzt Namens Dr. Salazar. Harris lernte ihn im Gefängnis während seiner Arbeit als Gerichtsreporter kennen. Zu Salazar notierte er eine wunderschöne Beobachtung, die auch in die Beschreibung Lecter einfloss, seine „Augen sind kastanienbraun, und sie reflektieren da Licht in Nadelspitzen aus Rot. Manchmal scheinen die Lichtpunkte wie Funken in sein Innerstes zu fliegen.“ Er nimmt alles über die Augen auf.

Es ist unklar, wie weit Thomas Harris mit seinem Hannibal planen wollte, aber das Ziel seiner Flucht wird vielleicht schon sehr früh im Roman verraten, im ersten Kapitel. Der Doktor will zu seinem Sehnsuchtsort.

In seiner Zelle blätterte er in der „Vogue“, der italienischen Ausgabe.

Evan Agostini Getty Images

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