Warum mein einziges Tattoo ein 50 Jahre alter Billy-Joel-Song ist
Ein Essay zum 26. Geburtstag – und zum Versuch, langsamer zu leben.

Ich werde heute 26. Ein weiterer Geburtstag, begleitet von den altvertrauten Fragen: Habe ich genug erreicht? Bin ich da, wo ich sein sollte? Und warum fühlt sich alles noch immer unfertig an? In solchen Momenten wandert mein Blick auf meinen rechten Unterarm. Mein erstes und einziges Tattoo. In feiner Kursivschrift steht dort ein einziges Wort: Vienna.
Billy Joel veröffentlichte seinen Song „Vienna“ im Jahr 1977 als Teil seines Albums „The Stranger“. Kein Hit. Er war nicht mal eine Single-Auskopplung, er erschien dann als B-Seite von „Just the Way You Are“, was nahelegt, dass Joel selbst ihn eher als Randnotiz verstand – als Stück für später, nicht fürs Rampenlicht. Und dennoch – fast 50 Jahre später – ist es der Song, der mir am meisten bedeutet und es sogar unter meine Haut geschafft hat.
„Slow down, you crazy child. You’re so ambitious for a juvenile.”
Als junge Frau wusste ich lange nicht, wohin mit mir. Ich bin gut behütet und gut situiert aufgewachsen. Meine Eltern haben mir alle Weichen für ein gutes Leben gestellt – meine Zukunft war unendlich. Und genau das war der Haken. Wenn jede Tür offensteht, durch welche geht man dann zuerst?
Ich war gefangen in meiner Freiheit. Unfähig mich zu entscheiden, stand ich da. Gelähmt von der Angst, das Falsche zu wählen – und dadurch alles andere zu verlieren. Ich verurteilte mich dafür, dass ich es nicht schaffte, etwas aus meinen Privilegien zu machen. Ich fühlte mich undankbar und tue es immer noch – jetzt, wenn ich darüber schreibe. Ich sehnte mich danach, dass mir jemand sagt, was ich tun soll. Und zugleich wollte ich mir nichts vorschreiben lassen. Ich pendelte zwischen Dickköpfigkeit und Orientierungslosigkeit.
Sylvia Plath beschreibt dieses Gefühl in ihrem Buch „Die Glasglocke“ mit einem Bild, das sich mir eingebrannt hat: „Ich sah mein Leben vor mir verzweigen wie einen grünen Feigenbaum. Von der Spitze jedes Zweigs, wie eine dicke, violette Feige, winkte und lockte eine wundervolle Zukunft. […] Ich sah mich unter der Astgabel dieses Feigenbaums sitzen, vor Hunger sterbend, nur weil ich mich nicht entscheiden konnte, welche der Feigen ich wählen würde. Und während ich dort saß, begannen die Feigen zu runzeln und schwarz zu werden, und eine nach der anderen plumpsten sie zu Boden zu meinen Füßen.“
„Slow down, you’re doing fine. You can’t be everything you wanna be before your time.”
Es ist ein seltsamer Widerspruch: Noch nie hatte eine Generation so viele Möglichkeiten – und noch nie war sie so erschöpft davon. Zwischen Work-Life-Balance und Lebenslauf-Optimierung, Selbstliebe und Selbstvermarktung, wächst ein Gefühl der permanenten Überforderung. Social Media zeigt uns, was andere machen – und was wir angeblich versäumen. Ein Algorithmus, der ständig flüstert: Iss weniger Zucker. Trink mehr Wasser. Mach mehr Sport. Warum meditierst du nicht? Lern Französisch. Wie viele Bücher hast du dieses Jahr schon gelesen? Und was ist mit dem Roman, den du schreiben wolltest? Hab Hobbys. Mach eins davon zum Beruf. Wie steht’s mit deinem Depot? Investiere in ETFs. Denk an deine Rente. Mach Karriere, aber vergiss nicht zu heiraten – mit 30, nicht später. Deine biologische Uhr tickt! Find einen Partner, aber lieb dich selbst. Sei eine gute Freundin, Tochter, Partnerin, Kollegin. Denk an deine Zukunft. Leb im Moment. Sei ambitioniert, aber bodenständig. Sei laut, aber nicht zu laut. Deine Mutter hatte in deinem Alter schon ein Haus – und ein zweites Kind auf dem Weg. Wieso bist du so überfordert? Du bist jung. Gesund. Gebildet. Machst du genug aus deinen Zwanzigern? Vergiss nicht: das ist die beste Zeit deines Lebens!“
„When will you realise – Vienna waits for you?”
In all dem Lärm vergesse ich manchmal, was ich da eigentlich unter der Haut trage. Ein einziges Wort – und doch ein ganzes Versprechen: dass ich Zeit habe. Wenn Billy Joel singt „Slow down, you crazy child“, dann klingt das für mich nicht wie ein Tadel, sondern wie ein Spiegel, den er mir hinhält. Ein eindringliches Erinnern daran, dass ich meine Zeit nicht gegen die anderer aufwiegen muss. Dass es in Ordnung ist, sich zu entscheiden – und es sich später noch einmal anders zu überlegen. Dass nicht alles gleichzeitig passieren kann, und das auch gar nicht soll.
Zwischen Deadlines, Perfektionismus und der ständigen Versuchung, mich mit anderen zu vergleichen, verliere ich manchmal aus dem Blick, was ich selbst eigentlich will. Und doch: Ich darf träumen. Ich darf nach Großem streben. „Don’t you know that only fools are satisfied?“ – auch dieser Satz ist Teil des Liedes. Und dennoch bedeutet er nicht, dass ich hetzen muss. Er erinnert mich daran, neugierig zu bleiben, offen, wach. Aber nicht atemlos.
Ich darf Zeit verlieren, um sie wiederzufinden. Ich muss nicht rennen, um anzukommen. Ich darf es mir erlauben, ein oder zwei Tage zu verlieren und mich daran erinnern, dass alles zur richtigen Zeit kommt. Ich war noch nie in Wien. Aber ich weiß, es wird auf mich warten.