Live-Analyse: Naidoo-Comeback in Köln – ein Reality-Check für Deutschland

ROLLING STONE war vor Ort: Xavier Naidoos Comeback in der Lanxess-Arena zwischen musikalischer Brillanz und unaufgearbeiteter Vergangenheit. Die Einordnung.

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Tag 2 der Xavier-Naidoo-Comeback-Tour in der ausverkauften Lanxess-Arena. Der Sänger liefert eine herausragende musikalische Performance. Und als es um seinen Lieblingssong geht, wird Naidoo sogar wieder politisch. Aber Moment mal, war da nicht noch etwas?

Das Hintergrundrauschen ist an Tag 2 deutlich abgeklungen

Es ist 21.08 Uhr, da kommt Xavier Naidoo für einen kurzen Moment in Bedrängnis. Gerade stimmt er „Hör nicht auf“, eine seiner frühen, programmatischen Balladen an, in denen er seine soulig-verpackten Durchhalteparolen in Form eines moralisch-pathetischen Imperativs inszeniert, da steigt der Gesang des Publikums plötzlich so laut an, dass er zum ersten, aber nicht zum letzten Mal an diesem vorweihnachtlichen Dezemberabend gegen gefühlt 16.000 Stimmen ansingen muss. Zugegeben, einen stimmgewaltigen Ausnahmekünstler wie Naidoo kann das nicht so wirklich in Bedrängnis bringen. Ein klein wenig erstaunt scheint er aber für einen Moment schon zu sein.

Es ist Tag 2 der zweitägigen Köln-Residency des in Ungnade gefallenen Sängers, der sich in der ausverkauften Lanxess-Arena an seinem Bühnen-Comeback versucht. Die beiden Shows in Deutschlands größter Veranstaltungshalle waren binnen Stunden ausverkauft und bilden nun Auftakt und Experimentierfeld einer 16 Konzerte fassenden Tour, die Naidoo ab Januar dann durch Deutschlands größte Hallen quer durch die Republik führen wird. Stand das erste Konzert am Vorabend noch unter scharfer Beobachtung und im Schatten einer Debatte über die Legitimität eines Bühnen-Comebacks für Verschwörungstheoretiker, ist das Hintergrundrauschen an Tag 2 deutlich abgeklungen. Ein Grund mehr, sich diesen Abend also einmal genauer anzusehen.

Im Fokus: allein die Musik

Zur Erinnerung: Sechs Jahre war Xavier Naidoo nun weg, hatte keine große Bühne mehr bespielt, und wie groß die Abstinenzerscheinungen beim Publikum waren, wird bereits deutlich, als sich der Innenraum der Halle füllt. Schon lange, bevor Naidoo auftaucht, ist der Jubel in der Lanxess-Arena so laut, dass man das Gefühl hat, das Publikum möchte seinen über viele Jahre verloren geglaubten Sänger durch Beifall einfach wieder vor das Mikrofon manifestieren.

Um 20.20 Uhr steht Naidoo dann tatsächlich mit sechsköpfiger Band auf der Bühne und spielt ein Konzert, das im klassischen Wortsinn noch ein Konzert ist. Auf Showelemente verzichtet der Sohn Mannheims beinahe komplett, reduziert sie jedenfalls auf ein Minimum. Nein, im Fokus steht an diesem Abend allein die Musik. Und die wird so meisterhaft inszeniert, wie das Naidoo schon ziemlich lange nicht mehr gelungen ist.

Und dann wird Naidoo noch einmal politisch

Mit „Bei meiner Seele“ eröffnet er den Abend, präsentiert dann ein mehr als zweistündiges Set, das einen Querschnitt seines Schaffens bildet, ein Set voller Hits, wobei die ganz, ganz großen davon im letzten Drittel („Bevor Du gehst“, „Ich kenne nichts (das so schön ist wie Du)“, „Und wenn ein Lied“) auftauchen.

Etwa zur Hälfte des Abends wird Naidoo für einen kurzen Moment sogar noch einmal politisch, obwohl er sich bislang jeden politischen Kommentar auffällig betont verkniffen hat. Bevor er das „Söldnerlied“ anspielt, betont er, dass dieser Song aus dem Jahr 2009 wohl sein gegenwärtiger Lieblingssong sei, weil die Anti-Kriegsrhetorik in der Gegenwart wieder einen brandaktuellen Bezug habe. „Wir gedenken hier den viel zu vielen Soldaten“, betont er dann und bleibt im Ungefähren, „die gegenwärtig ihr Leben verlieren.“ Dann stimmt er den Song an, der sich aus seiner anfänglichen Reduktion ekstatisch steigert und in einem schneidenden Gitarrensolo kulminieren lässt.

Und ja, hands down, die Neu-Arrangements der Songs funktionieren einfach großartig! Ihren Höhepunkt erreichen sie, wenn die Band sich bei „Zeilen aus Gold“ in einen großen perkussiven Rausch spielt, der sich in ein technoides Finale steigert, bevor sich der Song ein letztes Mal in all seiner Schönheit entfaltet. Der warme Sound legt sich an diesem Abend wie eine warme Wolldecke über die Mehrzweckhalle und hüllt einen komplett in musikalisches Wohlbefinden. Die Menschen sind selig, Mission erfüllt, Comeback geglückt.

Verschwörungsmythen versus Gefühl: Ein Reality-Check für Deutschland

Aber Moment, war da nicht noch etwas? Denn nun ja, dass Naidoo so lange weg war, das hatte ja schließlich seine Gründe. Naidoo, der seit Anbeginn seiner Karriere mit abstrusen Theorien (hauptsächlich) abseits der Musik für mal mehr und mal weniger Aufsehen sorgte, schien während der Corona-Pandemie seine letzten Hemmungen zu verlieren und driftete vor den Augen einer breiten Öffentlichkeit in ausländerfeindliche, antisemitische und verschwörungsideologische Narrative ab, die er mit einer zunehmenden Obsession verbreitete.

Zum Teil waren sie einfach nur absurd, wie etwa die Adrenochrom-Theorie, wonach elitäre Machteliten Zehntausende von Kindern in unterirdischen Tunnelsystemen gefangen halten und missbrauchen würden, um sich an ihrem Blut zu verjüngen, oder seine Recherchen, dass die Klimabewegung „Fridays For Future“ eine satanische Gruppierung wäre, die den Antichristen heraufbeschwört.

Zum Teil waren sie aber auch schwer menschenverachtend, wenn er über Flüchtlinge als „reißende Wölfe“ sprach, dem „Weltjudentum“ unterstellte, dass es Deutschland den Krieg erklärt habe, und den Holocaust eine „gelungene historische Fiktion“ nannte. Naidoo war ganz tief gefangen im Kaninchenbau der Verschwörungstheorien und fernab auch seiner ganz eigenen Realität.

Schrieb er zu Beginn seiner Karriere noch einen viel beachteten Song in Gedenken an den durch Neonazis totgeprügelten Alberto Adriano, ist einer seiner letzten Songs nun ein Feature mit „Kategorie C“-Sänger Hannes Ostendorf, der wiederum wegen eines Brandanschlags auf ein Flüchtlingsheim im Jahr 1991 verurteilt wurde. Im April 2022 schließlich kam er mit einem Videostatement zu Wort, in dem er offenlegte, dass bei ihm ein Nachdenk-Prozess eingesetzt habe, dass er sich in seinen Verschwörungstheorien verrannt und vieles von dem, was er gesagt hätte, nun bedauern würde. Was genau? Unklar. Seitdem: Funkstille.

Naidoo begleitete Deutschland allerdings auch durch schwere Zeiten

Darüber wurde auch in den vergangenen Tagen zu Recht wieder sehr viel geschrieben, eingeordnet und gemutmaßt, aber das alles interessiert heute Abend hier ganz genau niemanden. Das heißt nicht, dass das Publikum diese in der Vergangenheit geäußerten Theorien oder Aussagen teilen würde. Das heißt bloß, dass die politischen Ausfälle verziehen, vergessen oder zumindest für den Moment verdrängt sind.

Denn, noch mal einen kurzen Moment innehalten, bitte, da war ja doch auch noch etwas anderes in der Lebens- und Schaffensbilanz: Mehr als sieben Millionen verkaufte Tonträger, 14 Top-Ten-Singles, davon einige Hymnen, wie etwa „Dieser Weg“, den Song, nein, den Soundtrack zum Sommermärchen der deutschen Fußball-Weltmeisterschaft, gehen auf Naidoos Konto, also ein Œuvre, das einen nicht ganz unbedeutenden Teil von Deutschland beim Heranwachsen, durch den großen Liebeskummer, durch schwere Zeiten begleitet hat.

Mehr noch: Wahrscheinlich hat kein Musiker Deutschland über viele Jahre so tief aus der Seele gesungen wie dieser Mann. Naidoo rührt mit seiner Musik an so basale, grundlegende Gefühle wie Trauer, Angst, Liebe und Hoffnung (eigentlich lässt sich jeder seiner Songs auf eine dieser Grundstimmungen herunterbrechen), dass eben diese Musik für viele Menschen zu einem Soundtrack für ihr Leben geworden ist.

Vollblutkünstler. Vollblutmusiker. Und auch ein Vollblutseelenfänger

Auch das wird an diesem Abend noch einmal besonders deutlich, etwa wenn Naidoo „Abschied nehmen“ anspielt, einen Song über den Verlust eines geliebten Menschen, der viele im Publikum sichtlich rührt und bewegt. Dabei sind die Lyrics an Banalität kaum zu überbieten. „Und ich wollte noch Abschied nehmen / Das werde ich mir nie vergeben / Mann, wie konntest Du von uns gehen / Jetzt soll ich Dich nie mehr sehen“ Aber gerade in seiner Simplifizierung funktioniert der Song, als breitestmögliches Identifikationsangebot. Naidoo tänzelt über die Bühne und performt die Songs, die anderen Menschen die Welt bedeuten.

Er ist nicht nur Vollblutkünstler. Nicht nur Vollblutmusiker. Nein, Naidoo ist auch ein Vollblutseelenfänger. Und ja, diese persönliche Bindung wiegt in der Abwägung ganz offenbar für viele Menschen schwerer als die ganzen Verrücktheiten, die er sonst noch so verbreitet hat. Herz schlägt Wahnsinn. Nostalgie verklärt Bullshit.

Der Erfolg der Tour dürfte zumindest beweisen, wie riesig die Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung mittlerweile in weiten Teilen der Gesellschaft geworden ist. Oder auch: Wie wenig es die Menschen mittlerweile noch interessiert, wie Polit- und Kulturjournalisten Moral definieren oder wie sehr sich ein Sänger in politischen Verschwörungstheorien verirrt. Man will sich seine Lieder nicht kaputtreden oder schreiben lassen. Das hier, dieser Abend, das ist der wahre Reality-Check für Deutschland und seine Befindlichkeit.

Wieder ist kaum jemand näher dran an der deutschen Befindlichkeit als Xavier Naidoo

Dass Naidoo seinem Publikum, das sich als ziemlich bunter gesellschaftlicher Querschnitt präsentiert, wieder ganz nah ist, das demonstriert er selber dann ganz plakativ. Während „Bevor Du gehst“, dem letzten Song des offiziellen Sets, wagt er noch einmal den Gang durch den Bühnengraben, Händeschütteln und Selfie-Machen mit den Fans an der Absperrung. Schau mir noch einmal in die Augen, Baby, bevor Du… gehst. Tut er aber noch gar nicht.

Als Naidoo für die erste von zwei Zugaben zurück auf die Bühne kommt, fragt er das Publikum, ob man sich denn wirklich sicher wäre, dass sie noch ein paar weitere Songs hören wollen? Schließlich wäre es schon spät, außerdem mitten in der Woche und sie, die Menschen im Publikum, seien es schließlich, die morgen früh wieder aufstehen und zur Arbeit müssen, aber hey, hey, drei Songs gehen noch, oder? Na sicher! Und wer es jetzt noch nicht begriffen hat, dem wird spätestens in diesem Moment klar: Wieder ist kaum jemand näher dran an der deutschen Befindlichkeit als Xavier Naidoo.