Unfrieds Urteil: Jetzt Kanzlerin mit Herz – wie tickt Angela Merkel wirklich?

Für die einen ist Angela Merkel endlich „ihre Kanzlerin". Andere zweifeln, ob sie noch die ihre ist. Alle rätseln, warum sie sich so radikal gewandelt habe. Aber hat sie das tatsächlich?

Vor ein paar Wochen war ich zu Gast bei dem Philosophen Peter Sloterdijk in Wien, der mir auf die bisher überzeugendste Art erklärte, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) arbeitet. Politik der Gegenwart, sagt Sloterdijk, sei nicht mehr Gestaltung, sondern nur noch die Entscheidung zwischen verschiedenen Übeln. Merkel starre daher die zur Wahl stehenden Übel möglichst lange an, um herauszufinden, welches das kleinere sei. Manchmal sei sie gezwungen zu entscheiden, bevor sie es wisse.

In diesen Tagen gibt es zwei Annäherungen an Merkel, die mit ihrer aktuellen Flüchtlingspolitik und deren Präsentation nicht mehr den Erwartungen und Erfahrungen entspricht, seit sie Anfang September die Grenzen für die in Ungarn Gestrandeten öffnete.

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Die erste Reaktion kommt aus den politischen Links-Mitte-Milieus: Merkel genügte bisher politisch und moralisch (und ästhetisch) nicht meinen Ansprüchen, dieses pragmatische, kühle, prinzipienlose, an der Mehrheitsstimmung orientierte Durchgewurschtele. Nun ist alles anders. Glücklicher Seufzer: Das ist jetzt auch meine Kanzlerin.

Die zweite Reaktion kommt aus politischen Konservativ-Mitte-Milieus: Merkel genügte bisher meinen Ansprüchen, jetzt aber nicht mehr. Unglücklicher Seufzer: Ist das noch meine Kanzlerin?

Wobei man bedenken muss, dass die Merkel-CDU faktisch seit Jahren auch Politik für Links-Mitte-Milieus macht, die Linkspartei nationalistisch ist und die SPD mindestens so opportunistisch, wie man es Merkel bis vor wenigen Wochen rituell vorwarf. Und mindestens so konservativ. Die Trennlinie läuft also, was Wähler angeht, nicht zwischen SPD und Grünen hier, und CDU und CSU dort.

Die klarste Linie trennt Merkel und Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, Bundesregierung und bayerische Landesregierung – und damit CDU und CSU. Merkel will, wie der Merkel-Kenner Robin Alexander in der „WamS“ ausführt, die Zuwanderung aus Not intelligent managen und nicht offiziell begrenzen, weil sie das nicht für möglich hält („Es liegt nicht in meiner Macht“, sagte sie im Fernsehen) und damit auch nicht für hilfreich. Seehofer, als Chef des am stärksten betroffenen Bundeslandes, will sie begrenzen und setzt dabei offensiver als alle anderen auf Abschreckung. Und auf das übliche Problemdelegieren nach oben.

Politik ist kein Rosamunde-Pilcher-Roman

Merkel hat angesichts sinkender Zustimmungswerte erstmals seit Jahren in einer exklusiv dafür gekaperten Fernsehsendung auch den zusehenden Deutschen zu erklären versucht, warum sie macht, was sie macht. Am Montag setzte sie noch ein zweiseitiges Interview in „Bild“ drauf.

Doch ist Angela Merkel deshalb „eine verwandelte Frau“ („Der Spiegel“), jetzt neu „mit Herz“, die alles riskiert, wie es sich für eine große Politikerin gehört, wenn es die Situation erfordert?
Das ist die Deutung der Menschelorientierten und vor allem derer, die sich in hartnäckiger Realitätsverweigerung nach unpolitischen Politiknarrativen verzehren; nach Rosamunde-Pilcher-Schmonzetten. Angela – Schicksalsjahre einer Kanzlerin.

Und morgen kommt das nächste Problem oder der nächste Spin, und dann ist sie wieder eine kleine Politikerin und ohne Herz. Schicksalsseufzer vom Politikboulevard sind wirklich das Allerletzte, um mit den fortschreitenden Prozessen Klimawandel, Ressourcenübernutzung, Bevölkerungswachstum, Hunger, versagende Staaten et alii umzugehen, die Kriege und die Völkerwanderung der Gegenwart dynamisieren.

Wer sagt denn, dass Merkel nicht noch immer für die Mehrheit steht?

Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung aus Union und SPD und auch der Länder, ob nun von Grün, SPD, CDU und auch CSU regiert, wird eine Mischung aus „Hell“ und „Dunkel“ sein müssen, wenn sie erfolgreich sein will. Erfolgreich in dem Sinne, dass sie die Solidarität dieser Tage, die jene sich selbst ermächtigt habende deutsche Bürgergesellschaft in der lokalen Konkretion vorgelebt hat, in nachhaltige Politik umsetzt. Die Grenzen des real Möglichen auszureizen wäre kein Versagen, sondern die maximale Leistung. Möglichst vielen zu helfen, beinhaltet für Merkel vielen anderen nicht zu helfen. Beinhaltet reale Abschiebung der Abgelehnten, beinhaltet europäische Solidarität, beinhaltet Frontex, beinhaltet Mitarbeit der Türkei, beinhaltet globale Bekämpfung der Fluchtursachen.

Ich erkenne sie gar nicht wieder, heißt es derzeit. Die einen: Im Schlechten. Die anderen: Im Guten. Sie zieht diesmal ihr Ding durch, auch gegen die Mehrheit!
Falsch, falsch, falsch.
Erstens: Wer sagt denn, dass hinter Merkel nicht weiterhin eine Mehrheit steht?
Die entscheidende Modernisierungskämpfe werden in der Mitte gewonnen. Merkel rückt seit Jahren in Richtung Grüne Werte, sowohl identitäts- als auch energiepolitisch. Weil die gesellschaftliche Mehrheit sich dahin verschiebt. Das ist kein Opportunismus, das ist Politik. Was anderes gibt es in einer demokratischen Realität nicht.
Zweitens war das „Eiskönigin“-Klischee immer eine Unterstellung.
Drittens sind die Merkel-Projektionen in ihrer Maßlosigkeit Teil der gesellschaftlichen Dauer-Schnappatmung. Erst der Aufschrei, weil sie einem Flüchtlingsmädchen genau das sagte, was sie heute immer noch sagt: Dass nicht alle bleiben können. Jetzt die Ausblendung jener Asylrechtsverschärfungen, die vor wenigen Monaten nie eine Mehrheit bekommen hätten.

Meine These: Merkel macht es genauso wie immer. Wie Sloterdijk es beschreibt. Ob das nun ein „Plan“ ist oder nicht: Sie hat sich den Gesamtkontext der sich gegenseitig dynamisierenden globalen Entwicklungen angeschaut und dann die durch ein bestimmtes politisches Handeln oder Nichthandeln entstehenden Übel miteinander verglichen.

Und nun hofft Angela Merkel, dass ihr Vorgehen das kleinste Übel nach sich ziehen wird.

Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de

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