„Je wahrer, desto besser!“

Mit dem Psychodrama „Another Year“ hat der englische Regisseur Mike Leigh sein absolutes Meisterwerk gedreht.

Eine Begegnung mit dem englischen Regisseur Mike Leigh beginnt mit dem Aufräumen der Kulisse. „Beseitigen wir doch erst einmal diesen Mist!“ Eine voluminöse Keramikplastik hat es ihm angetan, die sich auf dem Tisch eines orientalisch eingerichteten Berliner Hotel-Salons breitgemacht hat. Schmuckwerk hat er noch nie gebraucht. Er steht wie kaum einer für den schonungslosen Blick auf die (britische) Realität.

Der aus Manchester stammende Filmemacher Mike Leigh gehört seit den 70er-Jahren zu den bedeutendsten Vertretern des englischen Kinos. Nach zahlreichen Fernsehfilmen wechselte er Ende der Achtziger zur großen Leinwand und wurde zu einem der gefeierten Stars des „Britischen Filmwunders“. Mit „Nackt“, dem Porträt des zynischen Misanthropen Johnny, gewann er 1993 den Regiepreis in Cannes, drei Jahre später die Goldene Palme für „Lügen und Geheimnisse“ – ein beklemmendes Psychodrama um die Suche einer jungen, erfolgreichen Schwarzen nach ihrer weißen Mutter aus der Arbeiterklasse. Vier Oscar-Nominierungen und ein Goldener Löwe in Venedig gingen 2004 an sein Abtreibungsdrama „Vera Drake“. Nachdem sein aufwendigster Film, die dreistündige Musiker-Biografie „Topsy Turvy“, 1999 am deutschen Publikum vorüber gegangen war, staunte man 2008 umso mehr über die Leichtigkeit von „Happy-Go-Lucky“: Das mitreißende Porträt einer hoffnungslosen Optimistin wurde zu seinem größten deutschen Kinoerfolg.

Sein psychologisches Drama „Another Year“ gehörte zu den Kostbarkeiten des vorigen Cannes-Jahrgangs und kommt am 27. Januar in die deutschen Kinos. Möglicherweise ist es sein bester Film, ein Kompliment, das er beim Rolling-Stone-Interview in Berlin ohne Umschweife zu akzeptieren bereit ist. „Jeder sagt, es ist mein bester Film“, so der 67-Jährige. „Da wäre ich vielleicht entschuldigt, wenn ich mich verführen ließe, dem zuzustimmen. Ein gutes Gefühl habe ich auf jeden Fall. Aber ehrlich gesagt habe ich das meistens, weil ich meine eigenen Filme eigentlich immer mag.“

Das über vier Jahreszeiten ausgespielte Familien- und Beziehungsdrama ist so pointiert geschrieben und so kunstvoll fotografiert, dass man sich eines kaum vorstellen kann: Sollte es tatsächlich, wie man es Leighs Filmen sonst nachsagt, ein Produkt der Improvisation sein? „Dieses Gerücht begleitete meine früheren Filme, aber auch dieser ist nicht wirklich anders entstanden: Was wir filmen, ist sehr genau vorbereitet und geschrieben, aber entwickelt wird es aus Improvisationen mit den Schauspielern. Ich konstruiere meine Drehbücher bei den Proben, aber dann ist das Schreiben sehr wichtig. Es schmeichelt mir sehr, dass Kritiker dabei an Pinter denken, den ich ähnlich großartig finde wie Beckett, dessen Einfluss, glaube ich, sehr sichtbar ist. Was man in der Präzision des Augenblicks finden sollte, muss vollkommen organisch sein und in einer absoluten Wahrheit und Glaubwürdigkeit gründen. Deshalb ist die monatelange Vorbereitung so wichtig.“

Schon in „Happy-Go-Lucky“ stand eine ausgemachte Nervensäge im Mittelpunkt, nun dreht er die (Schreck-) Schraube noch ein wenig weiter. Aus dem Überschreiten sozialer Grenzen wird jetzt ein mittlerer Albtraum. Die fürsorgliche Gerri, Leiterin einer sozialen Einrichtung, ist stolz auf ihr privates Glück mit dem genügsamen Geologen Tom. Ihre Kollegin Mary (Lesley Manville), die eigentliche Protagonistin, kann damit überhaupt nicht umgehen. Sie ist eine jener chronisch Einsamen, die gegenüber ihren wenigen Freunden kein anderes Thema kennen als ihr vermeintlich verpfuschtes Leben. So ist der Empfang, als sie unangekündigt bei Tom und Gerri auftaucht, auch eher eisig. Der angelsächsische Aphorismus „My Home Is My Castle“ scheint hier auf die Probe gestellt.

„Der Schutz des Privatraums ist bestimmt kein rein englisches Phänomen“, so Leigh. „Besonders extrem ist es sicherlich in Japan, wo es sehr ungewöhnlich ist, überhaupt eingelassen zu werden – ganz im Gegensatz zu etwa Lateinamerika. Worum es in meinem Film geht, sind selbstverständlich Fragen der Großzügigkeit und Gastfreundschaft, aber in Bezug auf das moralische Dilemma, was man tut, wenn jemand das Maß überschreitet und sich schlecht benimmt. Und wenn am Ende Mary, die diese Grenzen überschreitet, auftaucht, platzt sie in eine sehr private und heikle Familiensituation. Trotzdem lassen sie sie hinein. Und die Krux ist, dass Gerri nicht nur ein Mensch ist, der sich um andere kümmert, sondern eine professionelle Fürsorgerin. Wo ist also die Grenze zum Privaten? Worauf ich also absolut bestehe, ist, dass es kein Film über englische Moral ist, sondern über das allgemein Menschliche. So etwas könnte überall passieren.“

Kürzlich nannten Sie Ihre englische Heimat in einem Interview ein verrücktes Land. Was meinten Sie damit?

Warum ich England verrückt finde? Da gibt es sehr viele Gründe! Nehmen Sie zum Beispiel meinen Pass hier: Da steht „Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland“. Zugleich steht da: „britischer Staatsbürger“. Das ist doch ein Widerspruch. Denn ich bin kein Bürger, das gibt es nur in einer Republik, ich bin ein Untertan. Ich hoffe, ich lebe lang genug, um zu sehen, dass da steht: „Republik von England“.

Der elegante Kinolook von „Another Year“ ist weit entfernt von Ihren frühen Filmen, die Sie für das Fernsehen gemacht haben. Hätten Sie so einen Film überhaupt schon früher machen können?

Wahrscheinlich nicht. Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, meine Mitarbeiter sind gewachsen mit dem Medium. Obwohl: Mit „Naked“ von 1992 waren wir sehr innovativ. Auch „Happy-Go-Lucky“ ist sehr experimentell. Meine frühen Filme waren sehr einfach gemacht, auf 16 mm, voller Hingabe, aber mit beschränkten Mitteln und sehr schnell gedreht, 90 Minuten in fünf Wochen. Aber man sollte sie deshalb nicht für minderwertig halten. Das war eben damals das Medium. Man trieb es an Grenzen und hoffte, dass es am Ende so lebendig werden würde wie jetzt „Another Year“. Wir machten damals, was eben ging. Ich hatte schon einen Spielfilm gedreht, bevor ich zum Fernsehen ging, der war zwar sehr krude und entstand mit Mini-Budget, aber er war doch visuell auch sehr anspruchsvoll. Wir wollten immer die Grenzen ausloten.

Nun denken manche, Sozialdramen müssten krude und etwas schmuddelig aussehen. Hatten Sie damals überhaupt schon die Sehnsucht, für die große Leinwand zu arbeiten?

Auf jeden Fall. Die war immer da. Es kam selten vor, dass man auf das Fernsehformat Rücksicht nahm und bei einer Straßenszene sagte: „So eine weite Einstellung geht nicht, da sieht man nichts mehr.“ Aber ein Film ist immer ein Film. Und ich habe all diese Fernsehfilme mit Publikum auf großer Leinwand gesehen, und sie funktionieren alle. Trotz der Grobkörnigkeit.

Die englische Filmszene der 70er-Jahre war ziemlich trostlos …

Und der Aufbruch der 60er-Jahre von Lindsay Anderson und seiner Generation wurde marginalisiert. Wir glaubten alle nicht, dass es noch einmal losgehen würde. Erst mit der Gründung des Fernsehsenders Channel 4 in den Achtzigern wurde es plötzlich anders. Wenn man mir damals gesagt hätte: „Eines Tages kriegen Sie die Goldene Palme oder den Goldenen Löwen, man wird Ihre Filme im Ausland sehen“, hätte ich gesagt: „Träum weiter!“ Jetzt stehen wieder düstere Zeiten bevor. Die Regierung hat im Rahmen der radikalen Sparmaßnahmen in der Kultur auch das Film Council aufgelöst, die Vergabestelle für Filmfördergelder.

Niemand weiß, wie es weitergeht. Diese dumme Regierung mit ihrer Kahlschlagpolitik: Das ist schon ein paar Monate her, und noch immer weiß man nichts. Ich glaube aber, es wird nicht das Ende des Filmemachens in Großbritannien sein. Der gehobene professionelle Mainstream wird jedenfalls auf einem bestimmten Level überleben.

Man hat bei Ihnen nicht das Gefühl, dass über das Arbeiten an den Charakteren das Visuelle vernachlässigt wird, trotzdem wird Ihre Arbeit oft auf das Soziale, die Inhaltlichkeit reduziert.

Eine der großen Enttäuschungen über die Jahre war für mich, dass gesagt wurde, meine Filme seien nur sprechende Köpfe, was natürlich ein dummes und spießiges Urteil ist. Ich bin sehr froh, wenn die Natur dieses Films dafür sorgt, dass man das nicht mehr sagt.

Man sieht es dem Film nicht an, aber Sie haben ihn sehr schnell gedreht. Der Grund für die Eile war, dass mein Produzent Simon Channing Williams schwer an Krebs erkrankt war und sein Tod bevorstand. Den Film wollte er noch machen. Tatsächlich starb er dann bereits drei Tage vor Probenbeginn.

So eine Tragödie beeinflusst doch sicher die Arbeit …

Das tat sie wirklich, man merkt es an der Stimmung – obwohl einige Gefühle ja schon im Skript angelegt waren, es kommt ein Todesfall vor. Wir hatten 30 Jahre zusammengearbeitet.

Die Zuschauer für anspruchsvolle Filme werden immer älter. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Entscheidend ist nicht, ob das Filmemachen dadurch leichter oder schwerer wird. Aber mich betrifft sie, denn junge Zuschauer werden sich natürlich eher jüngeren Filmemachern zuwenden. Ich bin als Vorsitzender im Aufsichtsrat der London Film School stark mit der Lehre beschäftigt. Und ich habe einen Sohn, der radikale Filme macht, die er ins Internet stellt (Leo Leigh, der Regisseur von „Swansea Love Story“, einer Dokumentation über junge Heroinabhängige). Es gab eine Teenager-Vorstellung von „Another Year“ in London, ich kam zum Schluss dazu, und war schon sehr deprimiert, wie überall die Handys leuchteten und nur getextet wurde. In der Diskussion meldeten sich einige der Zuschauer und sagten, es sei nichts für junge Leute, zu langsam, es passiere zu wenig. Darüber wurde dann lange diskutiert. Aber es reicht nicht zu sagen, junge Leute sehen sich andere Filme an, sondern man muss fragen, warum sie nicht mehr kommen. Es ist ein Phänomen kultureller Ausgrenzung. Von den kulturellen Institutionen werden sie sich selbst überlassen. Und plötzlich haben wir wieder das alte Schreckgespenst – das Hollywood-Kino und seine Indoktrination der jungen Köpfe. Bis hin zur Annahme, Filme müssten so aussehen. Dabei gibt es doch nichts im sogenannten Arthouse-Kino, das nicht auch für ein junges Publikum funktionieren könnte! Ganz im Gegenteil. Aber es gibt kulturelle Tabus. Und diese Tabus sind ausschließlich das Ergebnis von kommerziellen Interventionen und von Imperialismus.

Aber auch ein anspruchsvoller Film über Teenager wie „Fish Tank“ von Andrea Arnold erreicht kein junges Publikum mehr.

Das ist ein anderer Fall. Es ist ein wirklich respektabler Film, aber er ist nicht so sehr „arthouse“ wie „arty“. Da ist das selbstbewusste Medium eben der Botschaft in den Weg geraten.

„Arty“ klingt nicht sehr freundlich, dabei gelten Sie doch als Kunstfreund.

Ich bin auf die Kunstakademie gegangen, bildende Kunst spielt in meinem Leben eine zentrale Rolle. Mir ist sehr wichtig, was in der Kunstwelt generell los ist, das inspiriert mich als Künstler. Mein nächster Film soll übrigens von William Turner handeln. Ich möchte das Leben des Malers in einem ähnlichen Stil verfilmen wie damals „Topsy Turvy“. Turner war eine faszinierende Figur, toll fürs Kino.

Sie haben also nicht die Sorge, dass das visuell anspruchsvolle Kino in die Museen abwandert?

Das muss nicht schlecht sein. Vielleicht setzt sich ja dadurch etwas Anspruchsvolles durch. Da müsste ich länger drüber nachdenken. Ich glaube jedenfalls nicht, dass das Medium Film zum Untergang verurteilt ist. Ich erinnere mich an eine Zeit, um 1978, als sehr oft in der BBC darüber diskutiert wurde, und dann sagte jemand: „Im Jahre 1990 gibt es Film nicht mehr“.

Ihr Landsmann Peter Greenaway sagt seit langem nichts anderes.

Er war ja der Erste, der die Übernahme der Kunst vorhergesagt hat. In London stehen die Leute Schlange, um in die Tate Modern zu kommen. Menschen aller Schichten, was doch eine großartige Sache ist. Ich mache mir darüber nicht allzu große Sorgen. Man wird immer Filme zu sehen bekommen, die einen Inhalt haben und das Leben in seiner Wahrhaftigkeit einfangen. Je wahrer, desto besser!

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