Dies ist der mit Abstand gruseligste Film des Jahres
Raoul Pecks „Orwell: 2+2=5“ verbindet Orwells Leben mit heutiger Politik – die furchteinflößendste Doku des Jahres 2025
Als er 19 Jahre alt war – noch Lichtjahre entfernt von Essays, Romanen und dem Pseudonym, das ihm literarische Unsterblichkeit verleihen sollte – zog Eric Arthur Blair nach Osten und trat der Indian Imperial Police in Burma bei. Das Land stand damals noch unter britischer Kolonialherrschaft – „ein Außenposten des Empire“ – und der junge Mann war in verschiedenen Städten rund um Rangun stationiert.
Dort begann Blair zu erkennen, wie die Behörden in diesem besetzten Gebiet mit dem erklärten Ziel agierten, kulturelle Vorherrschaft zu sichern und die einheimische Bevölkerung unter der Knute Ihrer Majestät zu halten. Er begann nicht nur, die Gewalt zu verachten, die er und seine Kollegen ausübten. Sondern auch anzuerkennen, dass „man, um den Imperialismus zu hassen, Teil davon sein muss. Aber es ist nicht möglich, Teil eines solchen Systems zu sein, ohne es als unrechtfertigbare Tyrannei zu erkennen.“ Anders als in England gab es keine Ober- und Unterschicht. Es gab nur Unterdrücker und Unterdrückte.
Nachdem sich der Schleier von seinen Augen gelüftet hatte, verließ Blair schließlich den Dienst. Er veröffentlichte ein Buch über seine Erfahrungen als Teil „des eigentlichen Apparats der Despotie“: „Burmese Days“. Zusammen mit dem halb-journalistischen „Down and Out in Paris and London“, in dem er ein Selbstexperiment in extremer Armut schilderte, begann der ehemalige Polizist, sich als Autor einen Namen zu machen. Oder vielmehr ein Pseudonym. Denn Blair nahm, als er Literat wurde, einen neuen Namen an – George Orwell.
Raoul Pecks filmische Methode
Raoul Pecks „Orwell: 2+2=5“ widmet diesem Kapitel im Leben des Autors kurze, aber entscheidende Passagen. Ergänzt durch verblasste Fotos und Orwells Prosa, gelesen von Damian Lewis. (Der Regisseur legt Wert darauf, diese Tonspuren nicht als Voice-over zu bezeichnen, da das bloß nüchterne Erklärungen implizieren würde. Er spricht lieber von „Performances“. Wie schon Samuel L. Jackson in Pecks „I Am Not Your Negro“ von 2016 ist Lewis’ kratzige Interpretation weniger ein Vortrag als ein Verkörpern.) Es wird als Schlüsselmoment im Leben des Schriftstellers dargestellt und bekommt den klassischen Dokumentarfilm-101-Rahmen: Hier wurde Orwell durch Empathie radikalisiert. Ein weiterer Schritt hin zum scharfen Chronisten von Elend, Menschlichkeit und seiner Zeit.
Eine amerikanische American Masters-Version dieses Künstlerporträts würde nun einfach chronologisch weitergehen. Eine „von der Wiege bis ins Grab“-Tour. Eingeleitet von einem Foto des Baby-Orwell im Arm seiner indischen Nanny. Doch Peck beginnt, Szenen heutigen Aufruhrs in Myanmar einzublenden. Dissidenten werden geschlagen und verhaftet. Propaganda schürt Chaos, Regierungssprache rechtfertigt „Befriedung“ – einer von vielen Euphemismen für staatlich sanktionierte Brutalität. (Weitere Beispiele: „Berufsausbildungszentren“, „rechtmäßiger Gewalteinsatz“, oder eine US-Regierung, die „Antisemitismus“ zur Zensur von Kritik an Universitäten einsetzt.) Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen unheimlich. Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich. Wir haben schon immer Krieg gegen Ozeanien geführt.
Gegenwart trifft Orwell
Bald mischen sich andere Brennpunkte in den Film: Ukraine, Gaza, der 6. Januar. Zeitgenössische Führer und aufstrebende totalitäre Regime prallen auf Ralph Steadmans Karikaturen für eine Ausgabe von „Animal Farm“ und auf Ausschnitte aus drei Verfilmungen von „1984“, Orwells berühmtestem Werk. Peck nutzt die Slogans des „Ministeriums für Wahrheit“ – „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“, „Unwissenheit ist Stärke“ – als Kapitelüberschriften. Es folgen Montagen von verhafteten Journalisten, posierenden Milliardären, der Entmachtung und Monopolisierung der Medien, einer Realität, die entführt und verzerrt wird. „Das Konzept einer objektiven Wahrheit verschwindet aus dieser Welt“, schrieb Orwell 1946 in seinem Essay „Why I Write“. Diese Worte sind ein zentrales Leitmotiv des Films – und heute sowohl ernüchternd als auch erschreckend aktuell. Wir müssen uns nicht fragen, was Orwell über unsere Gegenwart gedacht hätte. Er hat es bereits geschrieben.
Orwell für das 21. Jahrhundert
Schon nach kurzer Zeit wird klar, dass „Orwell: 2+2=5 “nicht nur einen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts porträtiert, sondern auch den Autoritarismus des 21. Jahrhunderts seziert. Peck verknüpft historische und aktuelle Szenen in einer monumentalen Collage – ähnlich wie in seinem vielschichtigen Kolonialismus-Essay „Exterminate All Brutes“ von 2021.
Das Resultat wirkt wie „Doomscrolling: Der Film“. Doch es zeigt auch, dass Orwell nicht nur seine Zeit kritisierte oder vorübergehende Missstände anprangerte. Er verstand, wie Macht funktioniert – und welche Mittel Machthaber, Parteien und Diktatoren einsetzen, um sie zu sichern. Die Methoden mögen sich ändern, die Kanäle der Desinformation und die allgemeine „Verschlimmbesserung“ der Welt auch. Doch die Mechanismen bleiben dieselben.
Peck hat seit Jahrzehnten politisch präzise Spielfilme, Dokus und Dokudramen geschaffen – von seinem Biopic über Patrice Lumumba (2000) bis zu seinem unübertroffenen Porträt James Baldwins („I Am Not Your Negro“). Mit diesem neuen Werk liefert der haitianische Filmemacher nicht nur ein unersetzliches Zeitzeugnis, sondern auch den mit Abstand furchteinflößendsten Film des Jahres 2025. Er endet mit einem Hinweis auf kollektives Handeln – auf BLM-Proteste oder die Menschenmassen bei Alexei Nawalnys Beerdigung als Zeichen des Widerstands.
Doch der Film ist klug genug, keine falschen Hoffnungen zu schüren. Am Ende, wenn das Foto von Orwell und seiner Nanny erneut eingeblendet wird, ist klar: Dieses Kind würde sein Leben dem Kampf gegen Gleichgültigkeit widmen und Empathie als Notwendigkeit – nicht als Luxus – betonen. Der Schriftsteller suchte nach einem Weg, seine eigene Verstrickung in ein korruptes System zu überwinden. Der Film inspiriert uns, dasselbe zu tun.