Interview

Herbert Grönemeyer: „Ein bisschen mehr Sturm-und-Drang-Radikalität täte mir gut“

Herbert Grönemeyer spricht im großen ROLLING-STONE-Interview über Inspiration für sein fulminantes Gegenwartsalbum „Das ist los“, seine Faszination für Stromae und Pläne für das Jubiläum von „Bochum“.

Vor fünf Jahren hast du erzählt, wie gern du den belgischen Musiker Stromae magst. Man hört auch an der Art, wie du manche deiner Songs elektronisch einrichtest, seinen Einfluss.

Genau, ja. Ich bin ein Riesenfan von Stromae. Ich halte ihn für unheimlich eigen, unheimlich simpel in einer tollen Weise. Ich habe ihn im Konzert gesehen, bin ziemlich scheu hingegangen. Hab dann auch Hallo gesagt, das war ganz schön verklemmt, von uns beiden. Die Designer Bold aus Brüssel, die seine Artworks machen, haben auch für „Tumult“ und nun „Das ist los“ die grafische Gestaltung gemacht. Stromae hat so eine melancholische Heiterkeit, und er hat auch eine klasse Band. Online gab es sehr schöne Videos, die zeigen, wie er seine Songs komponiert, sehr verspielt. Seine eigene Mode macht er auch. Er hat etwas Herzerwärmendes.

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Du gehörst zu den wenigen populären Künstlern, die sich noch immer entwickeln. Aber kann man sagen, dass du – kein nostalgischer Mensch – erstmals zurückschaust?

Das bleibt natürlich nicht ganz aus. Wenn man in einem bestimmten Alter ist, hat die Pandemie natürlich Jahre von der Uhr genommen. Bei Corona konnte erst niemand auftreten, und letztes Jahr dann hat jemand unseren Schlagzeuger und mich angesteckt.

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Das war der Grund dafür, weshalb die Tournee zum 20. Jubiläum von „Mensch“ im vergangenen Jahr nicht stattfand?

Ja. Wir hätten die Daten gerne nachgeholt, aber es gab keine Crews, es gab kein Equipment, keine Bühnen, weil viele Konzerte aus dem Jahr davor nachgeholt wurden. Wenn man so durch die Zeit geht, dann denkt man natürlich über sein Alter nach – wo man steht im Leben.

Die lange Pause: Ist man in der Lage, in Facetten noch etwas Neues hinzukriegen?

Jeder Künstler ist in seinen Möglichkeiten eigen und auch irgendwo limitiert, aber natürlich denke ich darüber nach, ob ich noch etwas Neues schaffe – oder ob ich mich wiederhole und zurückfalle auf das, was ich kann. Eine Ballade wie „Eine Tonne Blei“ ist natürlich Grönemeyer-Standard, würde ich sagen – sicher kein schlechtes Stück. Einen Song, „Herzhaft“, mag ich wahnsinnig gern, das ist ein Beat von dem Berliner Hainbach, der analoge Beats baut. Da habe ich um den Beat herum geschrieben. So etwas interessiert mich.

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Im nächsten Jahr ist das 40. Jubiläum von „Bochum“. Wird es Konzerte geben, bei denen das gesamte Album gespielt wird?

Jetzt stehen wir vor der „Das ist los“-Tour. Aber wir haben überlegt, ob wir zu dem Jubiläum in Bochum auftreten. Grundsätzlich gibt es die Überlegung, dass wir das gesamte Album spielen. Wir mussten vor zwei Jahren eine Weihnachtstournee mit dem Bolschoi-Orchester absagen.

„Bochum“ ist natürlich noch mal ein anderer Schnack als 20 Jahre „Mensch“. Spielen dann dieselben Musiker wie auf dem Album „Bochum“?

Dieselben. Wir sind eine unheimlich gute Live-Band, finde ich, und passen auch menschlich gut zueinander. Wir sind zusammen alt geworden, aber noch nicht völlig verpooft, glaube ich – wir können ein Stadion noch zum Steppen bringen. In fünf Jahren spielen wir dann vielleicht Unplugged-Konzerte.

Es gibt das „Rockpalast“-Konzert von 1984 in der Zeche Bochum bei YouTube zu sehen.

Ach! Nein! Das gibt es?

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Kannst du dich an den Auftritt erinnern?

Ich kann mich gut daran erinnern. Ich war gerade zur EMI gekommen, nachdem Intercord mir mehr oder weniger gekündigt hatte. Und es ging darum, „Bochum“ mit Präsentationskonzerten bekannt zu machen. Die Zeche wurde zu meinen Bochumer Zeiten gegründet. Deshalb war es ein irrer Moment, als ich dort spielen konnte. Es war noch vor der Veröffentlichung der „Bochum“-Platte. Ich war stolz wie Oskar. Als ich in Bochum lebte, traf man sich abends in der Zeche. In einer anderen Bochumer Kneipe habe ich abends von neun bis zwölf gespielt, für 500 Mark, oder 400 oder wat.

Waren es deine eigenen Songs?

Nein, ich habe damals fast nie eigene Songs gespielt. Das waren Sachen von Elton John, Randy Newman, Dylan. Ich klimperte immer in den Kneipen im Ruhrgebiet rum, seit ich fünfzehn war. Mit vierzehn hatte ich die erste eigene Band, wir spielten Cream und Ten Years After. Eine spätere Band spielte Frank Zappa und Hendrix nach. Ich hab alles von den Doors gespielt. Als ich einmal mit Jakob Hansonis, dem Gitarristen, an der Kölner Sporthalle vorbeifuhr, sagte ich: „Einmal werden wir in der Sporthalle spielen.“ Er, auf Kölsch: „Ja, is klar, is klar.“ Und die Zeche war auch so ein Ziel.

Ist „Bochum“ der perfekte erste Song eines Konzerts?

„Bochum“ war lange der beste Auftaktsong. Bei der letzten Tour mit „Tumult“ fingen wir an mit „Sekundenglück“, dieses leichte Geklicker, und es hat mich umgehauen, dass die Leute sofort leise mitsangen. Das hatte ich nicht erwartet. Aber diese beiden Stücke streiten sich um den besten Auftaktsong.

Wer ist „Poline“ in „Turmhoch“?

„Turmhoch“ ist eine Hommage an Frauen – und Po line kommt daher, dass ich in dem Bananentext, also dem Provisorium beim Komponieren des Songs, immer „Jo lene“ gesungen habe, Titel des Songs von Dolly Parton. Dann habe ich herum gedoktert und überlegt: Das muss ich jetzt so lassen. Hätte ich einen Namen genommen, hätten die Leute gedacht, das ist jemand, den ich kenne. Ich kenne aber keine Po line. Es ist der lautmalerische Name einer Frau, der Platzhalter ist für alle Frauen, die zu einem neuen feministischen Grundverständnis, ja zu Kampfbereitschaft gekommen sind. Dafür ist es ein Synonym.

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In einer Zeile schlägt die direkte Ansprache in den Plural um.

„Du bist die Königin der Herzen/ Es beliebt euch zu scherzen“ – das ist eine Wortspielerei. Ist auch doppeldeutig. Manchmal bin ich nicht komplett auf den Kopf gefallen. (Lacht vergnügt.)

In „Herzhaft“ singst du unvermutet: „Baby, you wanna dance.“ Wie ist dir das eingefallen?

Das kommt auch von dem Originalbananentext. Ich fand das eine schöne Zeile. Anglizismen sind sonst nicht meine Sache. Aber hier fand ich, dass die Zeile so schön ausschlabbert. Du bist fasziniert von jemandem, der es noch gar nicht weiß. Tanze erst mal mit ihr! Und der Song hat etwas Interessantes: Es ist ein Viervierteltakt, der aber groovt wie ein Sechsachtel takt, wie ein Walzer.

In „Das ist los“ fasst du die letzten drei Jahre mit Schlagworten zusammen, etwa wie bei „MfG“ von den Fantastischen Vier oder „Puzzlin’ Evidence“ von den Talking Heads.

„Subterranean Homesick Blues“ von Dylan, ja. Ein altes Prinzip des Textens.

So hast du eine Gegenwartsplatte aufgenommen, die auch eine Art elektronisches Ping pong spielt: „Was ist los/ Das ist los.“

Das ist so eine Art Zusammenfassung davon, mit welchem Wahnsinn wir uns jeden Tag beballern und auseinandersetzen müssen. Deshalb „Look out, kid“: Kriegst du das alles überhaupt noch auf die Reihe, muss man das überhaupt noch auf die Reihe kriegen? Oder ist es sinnvoller, sich zu entkoppeln, weil man sonst kirre wird? Es gibt ja den massiven Generationenkonflikt: Ich gehöre einerseits zu den alten weißen Männern, außerdem auch zu der Rock-Generation – und wir kommen jetzt an die Grenzen des Begreifens, Social Media, Netz. Und deshalb sage ich: Okay, ich komme an meine Grenzen – wie ist es mit dir? Die Jüngeren können das anscheinend.

Hast du manchmal Heimweh nach Bochum, nach jener Zeit?

Ich habe sicherlich kein Heimweh nach meiner Jugend oder nach meinem mittleren Alter. Aber ich habe Heimweh nach meiner damaligen Naivität. „Bochum“ habe ich in drei Monaten gemacht – Schreiben, Texten, Aufnahmen, Mischen, alles. „Bochum, ich komm aus dir“ – die Zeile habe ich geschrieben, fertig. Heute ist es natürlich komplexer, ich sitze länger daran – diese Platte hat anderthalb Jahre gedauert. Man dreht sich öfter im Kreis. Ein bisschen mehr von dieser Sturm-und-Drang-Radikalität täte mir gut, würde ich sagen. Ich war gern in Bochum, ich war gern am Theater, ich habe viel gelernt in diesem Chaos – aber ich werde jetzt nicht sentimental. Heute braucht alles wesentlich länger. Ich höre die Platte öfter, achte auf Kleinigkeiten. Du bist der größte Kritiker deiner eigenen Platte. Du hörst die Momente, wo du wirklich etwas Neues geschaffen hast, und dann überlegst du: Ist das genug? Reicht das? Du beobachtest jede Sekunde.

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„Deine Hand“ war schon im vergangenen Herbst fertig. Du hast den Song dann bei „Wetten, dass..?“ vorgestellt, wo du wahrscheinlich ein Dutzend Mal aufgetreten bist.

Na ja, die Veröffentlichungspolitik hat nichts mit mir zu tun. Das ist die neue Form – durch das Streaming ist die Form etwas merkwürdig, weil fünf Monate vor dem Album schon die erste Single da ist. Aber es kam vieles zusammen, weshalb ich den Song bei „Wetten, dass..?“ gesungen habe. Dort aufzutreten hat auch mit Sentiment zu tun. Frank Elstner hat uns damals in den Anfängen sehr unterstützt. Und ich glaube, dass ich einer der wenigen bin, die sogar zwei Songs in einer Sendung gesungen haben.

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„Deine Hand“ ist weniger ein Song als ein Mantra, ein Gebet. Wirst du das Lied auch auf der Bühne singen?

Ja, klar. Ich glaube, dass sich viele meiner Songs zunächst spröde erschlossen haben. Wenige wurden beim ersten Hören sofort gemocht. Und selbst „Männer“ wurde damals im Radio zunächst nicht gespielt. Eine Journalistin sagte mir zu „Angstfrei“: „Sie nehmen die Angst so ernst.“

Es gibt einen Song aus den 80er-Jahren, der „Angst“ heißt (auf „Sprünge“). Du hast ihn 1986 bei dem Festival in Wackersdorf gespielt.

Das war eine riesige Anti-Atomkraft-Veranstaltung. Wie viele Leute waren da? 60.000? 140.000. 40.000 waren zugelassen. Nur, die Gelder verschwanden alle. (Lacht.) Rio Reiser, Tote Hosen – alle waren da. Die ganze Armada. Rückblickend war es das Ende der 80er-Jahre-Renaissance deutscher Musik. Wir haben allerdings wahnsinnig viele Fehler gemacht.

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Hast du die Musik der Zeitgenossen weiterhin verfolgt?

Nicht jedes einzelnen. Ich habe mich aber immer mit deutscher Musik beschäftigt. Balbina ist auf der neuen Platte dabei. Auf Grönland haben wir auch eine neue Band, Oehl. Die Band Provinz ist sehr gut, Schmyt, der Rapper. Peter Fox, ganz stabil. Casper. Rio Reiser ist lange tot. Er hat mir damals eine Kassette von „König von Deutschland“ geschickt, die ich der EMI geben sollte. Die haben abgelehnt: „Wir haben schon genug.“ Das habe ich nie vergessen.

Nicht immer hat man auf dich gehört.

Nein! (Lacht herzlich.)

Das ausführliche Interview von Arne Willander mit Herbert Grönemeyer lesen Sie auch in der April-Ausgabe des ROLLING STONE

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