Ist Olivia Rodrigo die Rettung des Live-Album-Formats?

Olivia Rodrigo wagt mit „Live at Glastonbury“ das Comeback des Live-Albums – kann sie ein fast vergessenes Format zurück ins Rampenlicht holen?

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Letzte Woche machte Olivia Rodrigo eine Überraschungsankündigung zu ihrem Nachfolger von „Guts“. Doch statt eines weiteren Albums mit neuem Material wird „Live at Glastonbury (A BBC Recording)“, das im Dezember erscheinen soll, ihr komplettes Set von diesem Sommer dokumentieren – inklusive eines Gastauftritts von Robert Smith bei zwei Cure-Covern.

Die Hochzeit des Live-Albums

Doch noch erstaunlicher an dieser Ankündigung ist: Sie veröffentlicht … ein Live-Album? Im Jahr 2025? Wer macht das heutzutage noch? Unter den großen Pop- und Rockstars praktisch niemand. Aber vielleicht ist es an der Zeit für ein Comeback dieser Platten, die einst ein „Dabei-sein“-Gefühl vermittelten und neue Facetten eines Künstlers aufzeigten, die im Studio verborgen blieben.

Sie erinnern sich an Live-Alben, oder? Wenn Sie einer bestimmten Generation angehören, vielleicht nicht, da selbst Taylor Swift, sonst äußerst aufmerksam, wenn es um Einnahmequellen geht, kein vollständiges Konzertalbum von der Eras Tour veröffentlicht hat. Billie Eilishs „unplugged Live at Third Man Records“ von 2019 war nur als limitierte Vinyl-Edition erhältlich und wurde sofort zum Underground-Item. Doch über Jahrzehnte hinweg war die Konzert-LP fester Bestandteil zahlloser Musiksammlungen.

Egal welches Genre man verfolgte, irgendein Live-Album stand sicher im Regal. Classic-Rock-Fans besaßen „The Rolling Stones – Get Yer Ya-Ya’s Out!“ oder „The Who – Live at Leeds“. Soul-Fans schworen auf „James Brown – Live at the Apollo“, „Otis Redding – In Person at the Whisky a Go Go “oder „Aretha Franklin – Amazing Grace“. Metalheads verehrten „Deep Purple – Made in Japan“ oder „Metallica – Live Shit: Binge & Purge“. Für Southern Rock waren „Allman Brothers Band – Live at Fillmore East“ oder „Lynyrd Skynyrd – One More from the Road“ Pflicht. Und haben wir Woodstock erwähnt? Oder Nirvana – „MTV Unplugged“?

In seiner Blütezeit, die mehrere Jahrzehnte anhielt, erfüllte das Live-Album verschiedene Zwecke. In manchen Fällen – „Cheap Trick – At Budokan“, „Kiss – Alive!“, „Peter Frampton – Frampton Comes Alive!“, „Bob Seger – Live Bullet“ – bedeutete es den Durchbruch für Acts, die zuvor nur mäßigen Erfolg hatten. Warum nicht alle Hits vor jubelndem Publikum aufnehmen und ihnen eine zweite Chance geben? Live-Alben konnten auch eine Vertragsverpflichtung erfüllen (Beispiele gäbe es unzählige) oder Fans überbrücken lassen, bis ein neues Studioalbum kam – wie bei Fleetwood Macs „Concert“ von 1980, das die Lücke zwischen „Tusk“ und „Mirage“ schloss.

Das lange Sterben des Formats

Im 21. Jahrhundert ist das Live-Album nicht völlig verschwunden, doch der Markt wird von Archivmaterial bestimmt: endlose rare Aufnahmen der Grateful Dead, Bob-Dylan-Boxsets aus verschiedenen Tourneen und ähnliches. Radiohead veröffentlichen jetzt endlich Konzertmitschnitte – allerdings von vor 20 Jahren. Einige moderne Stars – Dua Lipa, The Weeknd, Florence + the Machine – haben in den letzten Jahren ebenfalls Konzertalben herausgebracht. Doch trotz ihres Namens haben sie nicht den gleichen Eindruck hinterlassen wie die Klassiker der Vergangenheit. Diese Alben sind heute Randnotizen, keine Ereignisse.

Die Gründe für den Niedergang des Live-Albums sind für Fans ernüchternd. Dank YouTube, wo man ganze Shows gratis sehen oder hören kann, oder über Plattformen, die Mitschnitte streamen lassen, fühlen sich viele nicht verpflichtet, für ein offizielles Album Geld auszugeben. Zynisch betrachtet vermuten manche wohl auch, dass im Konzert ohnehin mit vorproduzierten Gesangsspuren oder Instrumenten gearbeitet wird – und zweifeln deshalb an der Authentizität einer „Live“-Platte.

Der Reiz und das Risiko

Dabei lag ein Teil der Faszination früher genau darin, zu hören, wie Musiker abseits des Studios wirklich klingen. Man wusste, dass keine Note-für-Note-Reproduktionen der Albumversionen zu erwarten waren – was manchmal begeisterte, manchmal enttäuschte. Led Zeppelin, so eruptiv auf Platte, wirkten auf „The Song Remains the Same“ eher zerzaust. „Dylan & The Dead“ brachte das Schlechteste beider zusammen (die Probenaufnahmen sind besser). Doch wer hätte gedacht, dass The Roots Jay-Zs Songs auf „MTV Unplugged“ eine neue Dimension verleihen würden? Oder dass die Orchestrierung Dua Lipas „Live from the Royal Albert Hall“ im letzten Jahr ungeahnte Opulenz verlieh?

Für Dua Lipa und nun auch Rodrigo sind Live-Alben eine logische Erweiterung ihrer Position im Pop-Universum. Sie gehören zu den Acts, die Stadien und Festivals füllen – so wie Rockbands früher auf ihrem Höhepunkt. Wie viele im letzten Jahr auf der „Guts“-Tour erlebten, waren Rodrigos Shows voller Energie, und einige Songs („All-American Bitch“ zum Beispiel) wirkten live kantiger und wilder als im Studio. Ob das auch in reiner Audioform von ihrem Glastonbury-Auftritt überspringt, bleibt abzuwarten. Doch man muss ihr Respekt zollen, dass sie sich auf das Abenteuer Live-Album einlässt.

Eine Chance für die Wiedergeburt

Nach zu langem Niedergang braucht das Live-Album dringend eine Wiederbelebung. Vielleicht ist Olivia Rodrigo genau die Künstlerin, die dieses einst so zentrale, aufregende Format wieder zu einer lebendigen Kunstform machen kann.

David Browne schreibt für den ROLLING STONE USA. Hier geht es zum US-Profil