
Kevin Kühnert: Söders Wurstfalle
Warum wir nicht auf Identitätspolitik des bayrischen Ministerpräsidenten hereinfallen sollten.
Zu meinen lässlichen Gewohnheiten gehört, dass ich morgens von Zeit zu Zeit den Fernseher anschalte, um mich im BR-Fernsehen von den Panoramabildern berieseln zu lassen. Neuschnee auf dem Grünten, der Viktualienmarkt im Morgennebel oder der glitzernde Königssee im Sonnenaufgang lösen in mir eine vertraute Behaglichkeit aus. Im Hintergrund begrüßt eine Zither beschwingt den neuen Tag. So weit, so bayerisch-kitschig.
Ich wäre vermutlich nie auf die Idee gekommen, diesen Spleen weiter zu hinterfragen, wäre da nicht Robert Habecks viel zitiertes Interview in der „taz“ gewesen. Von diesem blieb, mehr noch als die Begründung seines Rückzugs aus dem Deutschen Bundestag, ein emotionaler Ausbruch in Richtung des bayerischen Ministerpräsidenten in Erinnerung. „Dieses fetischhafte Wurstgefresse von Markus Söder ist ja keine Politik“, platzte es aus dem Ex-Vizekanzler heraus.
Und während ihm die einen anschließend Weinerlichkeit und schlechten Stil attestierten, derweil die anderen das nachamtliche Klartextsprechen feierten, blieb eine viel wichtigere Frage ungestellt: Stimmt die Behauptung denn eigentlich, dass fetischhaftes Wurstgefresse keine Politik sei?
Würste, Blaskapelle, Brotzeit und Tracht
Wie vieles, was mit Essen zu tun hat, so wird auch diese Frage leichter verdaulich, wenn man sie ein wenig abkühlen lässt. Die Zwischenzeit kann zu Recherchezwecken genutzt werden, beginnend auf dem beliebten Instagram-Account des kommunikationsfreudigen CSU-Chefs.
Dort fallen die gleichermaßen zahl- wie kalorienreichen Einsprengsel kulinarischer Art schon längere Zeit ins Auge. Im Vergleich zu anderen Politiker-Accounts drängt sich zwischen Würsten, Blaskapelle, Brotzeit und Tracht geradezu die Frage auf, ob es sich hier nicht vielmehr um eine Art Tourismusmarketing, versetzt mit gelegentlichen politischen Inhalten, handelt. Phasenweise finden sich auf Söders Account neun Beiträge hintereinander, die sich irgendwo im Bermudadreieck aus Volksfesten, bayerischem Brauchtum und Essen bewegen.
Doch wenn einer seit drei Jahrzehnten Politiker und im achten Jahr Ministerpräsident seines Bundeslandes ist, sich derweil zu einer bundesweiten Marke entwickelt hat und im Netz Millionen erreicht, dann macht man es sich mit der Behauptung, das Markenzeichen dieses Politikers habe gar nichts mit Politik zu tun, vielleicht doch etwas einfach.
Die Sinnkrise der Parteien
Zugegeben, das Präsentieren von Essgewohnheiten und der Besuch von Bierzelten finden im Grundgesetz keine Erwähnung. Und im Sozialkundeunterricht werden auch weiterhin die Massenmedien als Vierte Gewalt bezeichnet – nicht das Münchner Oktoberfest. Und doch greift Habecks Befund zu kurz. Denn auch Talkshows, politische Bücher und Küchentischgespräche sind nirgendwo als heilige Dreifaltigkeit des politischen Diskurses festgeschrieben.
„Politik gründet im Zwischen, das zwischen den Menschen entsteht, sobald sie handeln und sprechen“, so formulierte es Hannah Arendt in einer posthum veröffentlichten Vorlesungsnotiz. Politik ist nach Arendt also nicht an bestimmte Orte, Medien oder Inhalte geknüpft. Vielmehr umfasst sie den Prozess, in dem wir Menschen als Individuen unsere Unterschiedlichkeit bearbeiten. Jeder, der schon mal eine Familienfeier besucht hat, weiß, was Hannah Arendt meint.
Man muss Markus Söder wahrlich nicht zum Genie verklären. Aber man sollte zur Kenntnis nehmen, dass er wie viele andere Politiker offenkundig nach Wegen sucht, in einer sich rasant verändernden Welt politische Zustimmung neu zu organisieren. Wo Individualisierung vormals vertraute Milieus aufbricht, Globalisierung die Zumutungen der Welt zu unseren Zumutungen macht und Digitalisierung als permanente Reizüberflutung über unsere Köpfe schwappt, da gehen alte Bindungen und Gewissheiten verloren. Jede traditionelle Organisation kennt diese Herausforderung, Parteien erleben sie als innere und äußere Sinnkrise. Der CSU-Chef weiß das von Hause aus.
Warum Habecks Bonmot an der Wirklichkeit vorbei geht
Gleichzeitig gibt es auf Rechtsaußen jedoch eine gegenteilige Entwicklung. Egal ob die jeweiligen Kräfte der radikalen Rechten autoritär, libertär oder autoritär-libertär daherkommen, sie alle sind durch zwei Merkmale verbunden: Personalisierung und Emotionalisierung, wobei insbesondere negative Emotionen wie Angst und Hass zur Geltung kommen.
Gegen eine tief verinnerlichte politische Verachtung kommen nachweislich weder Talkshowauftritte noch Steuererleichterungen, Faktenchecks oder andere Maßnahmen aus dem traditionellen Instrumentenkasten der Politik an. Die Bedeutung von Sachpolitik mag für unser aller Alltag ungebrochen sein. Doch im parteipolitischen Wettbewerb und im Kampf um die Köpfe nimmt ihre Bedeutung zuletzt rapide ab. Manches spricht dafür, dass demokratische Kräfte selbst Wege finden müssen, Personalisierung und Emotionalisierung auch für ihre Politik nutzbar zu machen.
Habeck gibt mit seinem Bonmot vom fetischhaften Wurstgefresse denjenigen eine Stimme, die von der bloßen Banalisierung politischer Debatten frustriert sind; die sich Argumente anstelle von Posen und Parolen wünschen. Für diesen Wunsch empfinde ich großes Verständnis. Und doch müssen wir mit der Wirklichkeit arbeiten, die wir vorfinden, und Antworten geben, die dazu passen.
Söders Identitätspolitik
Markus Söder hat sich zunutze gemacht, dass der von ihm regierte Freistaat Bayern unter allen sechzehn Bundesländern vermutlich die besten Voraussetzungen bietet, um selbst auf der Klaviatur der Emotionen und lokalen Identitäten groß aufzuspielen. Das Potpourri aus Wurstspezialitäten und Mehlspeisen, aus Zugspitze und Bayerischem Wald, aus FC Bayern und Adidas, Frankenwein und Hellem, Oktoberfest und Bayreuther Festspielen, Viehscheid und IAA, es funktioniert in den Freistaat hinein als wärmendes Lagerfeuer. Nach außen hin dient es als Projektionsfläche für eine Lebensweise, auf die man sich wenigstens für die Dauer eines Urlaubs gut einigen kann.
Das passende Vokabular gibt es vom Ministerpräsidenten kostenlos dazu. Hier ein Ausflug in die Begriffswelt eines einzigen (!) Söder-Posts auf Instagram, der sich mit der sogenannten „Bauernmarktmeile“ in München befasst: Bayern, Bauern, Blasmusik, Heimat, Gastlichkeit, Gemütlichkeit, regionale Lebensmittel, Familienbetriebe, Spitzenqualität, Exportschlager, Heimatgefühl, Vielfalt, Unabhängigkeit, Landwirte, Appetit. Eine Wortwolke wie ein Heuhaufen: Man will direkt reinspringen. Blöderweise merkt man dabei gar nicht, dass der Landesvater uns hier anderer Leute Heu als sein politisches Machwerk unterjubeln will.
Der frühere TV-Redakteur Söder schafft es, eine Brettljause zu präsentieren, als handele es sich dabei um ein milliardenschweres Investitionspaket. Im Kreise der Kolleginnen und Kollegen wird er dafür belächelt. Doch im Festzelt ist die Brettljause nicht nur der kleinste gemeinsame kulinarische Nenner. Sie ist aktuell auch greifbarer, identitätsstiftender und unumstrittener als jedes staatliche Ausgabenprogramm. Dass die Brettljause neben der Bekämpfung akuten Hungers kein Problem zu lösen vermag, fällt nicht weiter ins Gewicht. Wenn alle Anwesenden sowieso kaum mehr daran glauben, irgendeine Partei oder Institution könne ein Problem lösen, dann ist eine esskulturelle Übereinstimmung immerhin mal ein Anfang. Darauf ein Prosit der Gemütlichkeit!
Herzlichkeit einer Filmkulisse
Übrigens, für den Fall, dass er doch noch mal in die Verlegenheit einer Kanzlerkandidatur kommen sollte, baut Söder bereits vor und passt sein Politikmodell an: Er bereist die Republik wie ein Kanzler auf Sommertour. Wo immer er auftaucht, werden mehr oder weniger garstige Spitzen gegen die dortige Landespolitik verteilt (Länderfinanzausgleich! Ferientermine!), und ansonsten wird das örtliche Lebensgefühl umschmeichelt. Fischbrötchen auf Helgoland, Döner in Berlin und Grillschürze in NRW.
Der Politiker Söder funktioniert in der Öffentlichkeit wie das Large Language Model von ChatGPT: Auf Grundlage von Berechnungen wird ermittelt, wie sich ein Mensch zu einer Frage oder einem Sachverhalt vermutlich verhalten würde. Und auf dieser Grundlage erfolgt dann die Reaktion. Mit so etwas wie einer eigenen Überzeugung sollte diese jedoch nicht verwechselt werden. #Söderisst demnach nicht nur, was die meisten essen. Sondern #Söderist auch so, wie die meisten sind – jedoch nur in seiner öffentlichen Verkleidung. Denn wer Markus Söder mal im Real Life getroffen hat, der merkt schnell, dass Herzlichkeit und Gemütlichkeit hier ungefähr so echt sind wie die Kulissen der Bavaria-Filmstudios.
Söder vs. Wirklichkeit
Man kann Markus Söder leidenschaftlich dafür kritisieren, dass er sein Publikum nachäfft, um sich anschließend mit ihm gegen den eigenen Berufsstand zu fraternisieren. Es ist jedoch unzutreffend zu behaupten, das sei keine Politik. Söder inszeniert sich als Lordsiegelbewahrer einer bayerischen Lebensweise, die er selbst sorgsam kuratiert. Das Kalkül: Wer ihn bei seinem Kammerspiel politisch angreift, der greift angeblich die bayerische Identität an. Das ist billige Identitätspolitik, und niemand sollte mehr in diese Wurstfalle tappen.
Jedes Ernährungsscharmützel mit Markus Söder ist eine vertane Chance, ihn durchaus emotional für die Politik anzugreifen, die er tatsächlich persönlich verantwortet. Warum soll es trotz Klimawandel in Bayern einfacher werden, neue Pisten, Lift- und Beschneiungsanlagen zu bauen? Warum wurden unter Söder Tausende öffentliche Wohnungen verkauft, die heute gebraucht würden? Warum liegen sechs der zehn am schlechtesten mit dem ÖPNV erschlossenen Landkreise Deutschlands in Bayern? Und warum trommelt ausgerechnet jener Mann für eine niedrigere Erbschaftsteuer, dessen Ehefrau mit der Baumüller Holding ein multimillionenschweres Unternehmensgeflecht besitzt?
Mit diesen kämpferischen Fragen geht der Autor heute ins Bett, nur um morgen früh beim fetischhaften Panoramabilderschauen wieder geprüft zu werden, ob er sich nicht doch manipulieren lässt. Dann wird die Kamera gefällig über das Oberstdorfer Skisprungstadion gleiten und mir glauben machen wollen, ich blätterte in einer Bilanzbroschüre der CSU. A Hund bist fei scho, Markus – aber das ist ja nun wirklich keine Politik!
Dieser Text ist ist der Auftakt von Kevin Kühnerts Kolumne „Teilnehmende Beobachtung“, die ab jetzt alle zwei Wochen auf rollingstone.de erscheint.