Kritik: Depeche Mode in Berlin – Spirit bis zum Schluss

Mit ihren zwei „Global Spirit“-Abschlusskonzerten in der Berliner Waldbühne verabschieden sich Depeche Mode bis 2021. Verdientermaßen: So gut waren sie als Liveband zuletzt vor 20 Jahren. Was für ein Spektakel!

März 2017, Depeche Mode veröffentlichen ihr Album „Spirit“, das Aufbegehren gegen Trump, ein von Fans vielleicht erhofftes, so aber von der Band noch nie gehörtes, deutliches Statement gegen Rassismus und Faschismus. Der Wahl-New-Yorker Dave Gahan machte damals in Manhattan, The Donald war frisch vereidigt, Promo für die Platte, und am Briten vorbei marschierten die Protestler gegen den US-Präsidenten, durch die Straßen am Battery Park. Die Leute schrien gegen Trump an. Auch Gahan empörte sich gegen den Popanz, der das Einwanderungsland Amerika gegenüber Menschen aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens abschotten wollte.

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Eineinhalb Jahre später ist alles noch so dringlich wie in jenem Januar, noch dringlicher. Trump könnte, nach Helsinki, seinen Kommentaren zu Charlottesville, nach jedem öffentlichen Auftritt, die Welt Richtung Abgrund führen.

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Gahan hat das nicht vergessen. „We Watch Men Die in Real Time“, singt er, noch immer überzeugend, im Eröffnungssong „Going Backwards“, mit dem Depeche Mode am Montag das erste von zwei Abschluss-Konzerten der „Global Spirit“-Tour in der Berliner Waldbühne einleiteten. 

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Täglich gehen Menschen in Flüchtlingsbooten unter. Vor „Going Backwards“ zeigt die Leinwand marschierende Comic-Beine, die, ähnlich der im Gleichschritt puckernden Hammer in Alan Parkers Film „The Wall“, gleichzeitig wie Aktion und Befehl wirken. Marschieren wir im Gleichschritt oder gegen das System? Tut etwas gegen das Sterben.

Depeche Mode: Die Message kommt an

Dave Gahan, Depeche Mode

Gahn senkt zu „Going Backwards“, ein Lied über den zivilisatorischen Rückschritt, den Daumen – quasi sein „I Don’t Like“ statt „ I Like“, vielleicht etwas platt, aber die Botschaft kommt, in Facebook-und-allen-anderen-Social-Media-Zeiten, an.

Und es gibt noch mehr Botschaften: „Barrel of a Gun“ erhält seinen Kick durch das Grandmaster-Flash-Snippet aus „The Message“: „ It’s like a jungle sometimes / It makes me wonder how I keep from goin‘ under.“ Gahan wischt sich dabei imaginäre Schuppen vom Blazer – ein Rollenspiel. Der Dreck geht mich, den POTUS, nichts an.

Es sind solche Momente der Wut, die die ersten 45 Minuten zu einem Spektakel machen. „Corrupt“, zwar von 2009, aber auch ein aktuell funktionierendes Protest-Lied, vielmehr der fetteste Klopper des Abends, ist wie eine Drohung Richtung Trump: „Soon you’ll be crying / And wishing you dreamt me.“

Danach wird es Zeit für die Depeche-Party. Und wie. Ab dann gab es nichts mehr zu verhandeln. Fans und Kritiker beklagten zuletzt die immer gleichbleibende Live-Songauswahl, als wäre sie von einer Maschine abgespult. Bei diesem Auftritt holen DM einige Stücke zurück, und das merkten auch die Setlist-Buchführer. „So Much Love“ kam als Song zwei, was, so schlecht das Lied auch ist, für Jubel sorgte – die Anhänger wussten damit, der erste Abschluss-Abend der „Global Spirit“-Tour wird besonders, also doch ein längerer Auftritt, nach den jüngsten, enttäuschenden Festival-Gigs mit nur 15 Songs.

„Wrong“ ist auch wieder da, und „ I Feel You“ rückte nach vorn, fast in die Mitte des Konzerts. Erstmals „I Feel You“ und „ A Question Of Time“ am selben Abend! Am Mittwoch kann man sich dann eventuell auf „The Things You Said“, „Useless“, „I Want You Now“ und „Just Can’t Get Enough“ freuen.

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Und dann die bunten Luftballons! Martin Gore feierte Geburtstag, seinen 57. Gahan stimmt „Happy Birthday“ an, sein alter Weggefährte grient, und auch die Zuschauer haben an den Ehrentag gedacht. Etliche Glückwunsch-Plakate werden im Waldbühnen-Rund hochgehalten. So richtig genau nimmt es eine Fan-Gruppe, die zwölf Sitzplätze nebeneinander ergattern konnte, zwölf Einzel-Schilder emporreckt, je eines für jeden Buchstaben aus MARTIN L. GORE inklusive Interpunktion – einer von ihnen hat also pflichtschuldig das Schild übernommen, auf dem nur das „.“, der Punkt aus „L.“ steht.

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Auch sonst funktioniert die Fan-Choreografie wie eine geölte Maschine. Das Weizenfeld im Wind, aus an diesem Abend 44.000 Armen bei „Never Let Me Down Again“ versteht sich von selbst, und bei „World In My Eyes“ formen die Leute jenes Symbol aus zwei Händen, das zunächst an die Merkel-Raute erinnert, dann an ein Herz, am Ende dann doch an eine Zorro-Maske mit Teufelshörnern.

Diesen Auftritt sollte man also in Erinnerung behalten, aber vielleicht wird einem dabei ja auch geholfen. Ein Kameramann filmt mit, und der sehr lange Holländer, der bei der Live-Regie sehr offensiv nachhilft, indem er dem Kameramann hinterherrennt, heftig an dessen Kabel zieht, den Mann damit zu sich zieht und so veränderte Aufnahmepositionen forciert, ist Anton Corbijn, der langjährige Wegbegleiter der Band. Vielleicht erscheint gerade dieses Konzert ja als Homevideo, so wie stets ein Gig der letzten Tourneen.

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Das wäre auch genau richtig so. Depeche Mode sind als Liveband in extrem guter Form. Es deutete sich beim Warmup-Gig im Funkhaus Berlin an, zog sich durch die Hallentour fort, und jetzt steht fest: „Global Spirit“ ist ihre beste Konzertreise seit der „Singles 1986-1998“-Tour . Die liegt 20 Jahre zurück und bestand, wie der Titel schon sagt, nur aus Hits, Hits, Hits.

Die Pause bis zur nächsten Platte, die sicher 2021 erscheint, haben sie sich verdient.

„I was in tears“, sagte Daniel Miller dann bei der Aftershow-Party des zweiten Konzerts (Mittwoch), das ROLLING STONE belauschen konnte. Miller, der Entdecker der Band. Kein Wunder. Ein Fest war der zweite Auftritt. Mal eben so zehn Songs in der Setlist ausgetauscht – das strafte allen Leuten Lügen, die die Aufführungen der Band als festgenagelt prognostizieren. Großes Geschrei im Publikum bei den „Music For The Masses“-Songs „The Things You Said“ und „I Want You Now“, die DeMo seit Ewigkeiten hierzulande nicht mehr brachten. Aber nicht nur deshalb. Die Waldbühne hatte eine Grundlautstärke, die sich so bei der Band noch nie messen ließ. Es war Beatle-Mania.

Die wahrscheinlich berühmteste dokumentierte Live-Aufnahme der Band – aller Zeiten! – ist „Everything Counts“, das 1988 so gut war, dass der Mitschnitt aus Pasadena in das Gedächtnis aller Fans eingekehrt ist: „The Grabbing hands, grab all they can.“ Immer, und immer wieder.

Am Mittwoch wird der Schluss-Chor des zweiten Konzerts noch länger gestreckt. Minutenlang. Als würde für  eine neue Veröffentlichung hingearbeitet.

„101“ ist lange vorbei, 30 Jahre her. Und wir müssen zweieinhab Jahre warten auf die nächste Platte.

Aber das kriegen wir schon rum.

Francesco Prandoni Redferns
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