„Black Widow“: Feminismus, Sexismus und Familientragödie – Marvel wird mutig

Der „Black Widow“-Solofilm distanziert sich von den unrühmlichen Anfängen der Figur. Zwischen Marvel-Action, Spionage-Thriller und Tragikomödie erzählt er die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie.

Die Rezension enthält Spoiler zur Handlung des Films

Höher, schneller, weiter – bei sage und schreibe 23 Filmen war es wenig überraschend, dass das MCU (Marvel Cinematic Universe) spätestens ab „Captain America: Civil War“ zur unübersichtlichen Action-Abomination mutierte. Nachdem die „Infinity-Saga“ um die Avengers-Truppe und Widersacher Thanos im Jahr 2019 endlich abgeschlossen wurde, fragten sich Fans zurecht, wie man da noch einen draufsetzen wolle. „Black Widow“, der am 08. Juli in die Kinos kommt, bricht mit Schema-F, überzeugt mit einem hervorragenden Cast und traut sich abseits des Marvel-Einerleis an schwerere Themen wie Schuld, Trauma und Feminismus heran.

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„Black Widow“ setzt nach „Captain America: Civil War“ ein und erzählt in Rückblenden die Kindheit und Jugend Natasha Romanoffs alias Black Widow. In der UdSSR geboren, gerät Romanoff (Scarlett Johansson) bereits als Baby in die Fänge des KGBs, von dem sie zur Auftragsmörderin erzogen wird. Teil des geheimen „Red Room“-Programms ist eine Tarnfamilie, bestehend aus der kleinen Schwester Yelena (Florence Pugh), der Black-Widow-Agentin und „Mutter“ Melina (Rachel Weisz), sowie dem sowjetischen Captain-America-Verschnitt, Alexei Shostakov alias Red Guardian (David Harbour).

Nach ihrer Befreiung aus dem Programm lässt Romanoff ihre Familie zurück und wird in den USA zur Superheldin Black Widow. Natürlich wird Natasha schließlich doch von ihrer Vergangenheit eingeholt und beschließt, nach einer holprigen Wiedervereinigung mit ihrer einstigen Familie, dem Red Room ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

Mit „Black Widow“ hat es Regisseurin Cate Shortland („Lore“, „Berlin Syndrome“), geschafft, einen Genre-Mix aus Marvel-Blockbuster, Spionage-Thriller und Tragikomödie zu kreieren, der in weiten Teilen hervorragend funktioniert. Im ersten und zweiten Akt bekommen wir einen Film zu sehen, dessen Kampfchoreographien und Verfolgungsjagden durch die engen Gassen Budapests eher an einen „Jason Bourne“ erinnern, als ans Superhelden-Genre. Kaum vorstellbar, wie erfrischend es ist, zur Abwechslung mal nicht zu sehen, wie New York oder Washington D.C. von Aliens in Schutt und Asche gelegt werden. Natürlich liefert am Ende auch dieser Film ein Action-Feuerwerk, doch es sind die kleinen Momente, wie das Bild der im Ruhestand lebenden Spionin, die in ihrem Wohnwagen Bond-Filme schaut, mit denen „Black Widow“ seinen Charme transportiert.

Inhaltlich schwerer, gleichzeitig lustiger als viele Vorgänger

Red Guardian
David Harbour als ausrangierter Kommunisten-Superheld Red Guardian.

Unter anderem mit einem großartigen David Harbour, der die mürrisch-väterliche Art seines Chief Hopper aus „Stranger Things“ für diese Rolle wiederbelebt, gelingt dem Film etwas, dass bei weitem nicht alle Marvel-Streifen schaffen: Er ist tatsächlich lustig. Die Comedy-Elemente im MCU waren schon immer ein zweischneidiges Schwert. In „Black Widow“ liefert Red Guardian, der ausrangierte Superheld, der im Suff den Erinnerungen an seine glorreichen Tage nachhängt, statt platten Sprüchen tragikomische Situationskomik. Harbour und Pugh brillieren als Vater-Tochter-Gespann und sorgen als heimliche Stars des Films sowohl für dessen lustigste, als auch dessen rührendste Momente.

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Es sind die ungewöhnlichen Leitmotive, die „Black Widow“ aus der Masse des übersättigten Superhelden-Genres herausstechen lassen: Familie und Schuld. Konfrontiert mit ihren jeweils eigenen düsteren Vergangenheiten finden die Mitglieder dieser zusammengewürfelten Familie verschiedene Wege, diese zu verarbeiten. Während der eine sich vom Leben ab- und dem Alkohol zuwendet, versucht die andere als Superheldin ihre Schuld zu begleichen. Ohne die „Avengers“-Reihe  spoilern zu wollen, wird hier der Grundstein für Natasha Romanoffs Handlungen in „Avengers: Endgame“ gelegt.

Black Widow
„Black Widow“ erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie.

 Marvel Studios lernt (endlich) aus der Vergangenheit

„Black Widow“ markiert nicht nur den Beginn der vierten Phase des MCUs, sondern ist zugleich eine Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen: „Seht her, wir haben uns geändert“. Doch tatsächlich hält der Film dieses Versprechen und schafft es, Johanssons Figur endlich den Neustart zu geben, den sie verdient hat. Black Widow – die schwarze männerfressende Witwe, die Femme Fatale, die ihre Ziele verführt und dann Eiskalt um die Ecke bringt – auch das war Natasha Romanoff im MCU schon. Unangenehme Erinnerungen an die Stuhl-Szene in „The Avengers“ oder Tony Starks „I want some“ in „Iron Man 2“ kommen hoch. Erst kürzlich kritisierte Johansson („Lost in Translation“, „Marriage Story“) in einem Interview mit „Collider“ diese frühere, übersexualisierte Version ihrer Rolle.

All das scheint Regisseurin Shortland mit „Black Widow“ aus dem MCU verbannt zu haben. Statt eines nichtssagenden Love Interests wird Johansson Florence Pugh („Midsommar“„Little Women“) an die Seite gestellt, die sich binnen kürzester Zeit zur neuen Marvel-Ikone spielt. Im Mittelpunkt steht die Beziehung der beiden Schwestern, die vom gemeinsamen Trauma verbunden nach dem Guten im Scherbenhaufen einer gestohlenen Kindheit suchen. Aber auch die Figur Romanoff selbst hat sich gewandelt. Statt mit hautengem Lederkostüm und verführerischen Tricks besiegt Black Widow 2.0 ihre Feinde, indem sie ihnen einfach mal ordentlich eins in die Schnauze haut.

Warum einfache Botschaften kein Fehler sind

Das wahre Ausmaß dieser Entwicklung wird erst im explosiven Finale des Films deutlich, wenn sich Antagonist Dreykov als personifiziertes Patriarchat herausstellt. In einer vielleicht etwas zu klischeehaft geratenen „der Bösewicht enthüllt seinen teuflischen Plan“-Szene stellt sich Romanoff ihrem ehemaligen Peiniger in dessen Büro. Siebziger-Jahre-Holzoptik, Whiskey-Flaschen und mittendrin der alte weiße Mann, der nach all den Jahren noch immer die Fäden in der Hand hält. Dabei lässt Dreykov, überzeugend eklig gespielt von Ray Winstone, einen ganz besonders einprägsamen Satz fallen. Er habe sich „die einzige natürliche Ressource“ zu Nutze gemacht, von der es auf der Welt zu viel gebe: Mädchen.

Black Widow
Statt einer belanglosen Liebesgeschichte steht die Beziehung zweier Schwestern im Vordergrund.

Der aktuelle Trend des „Disney-Feminismus“, jener leicht bekömmlicher Botschaften, die schon den „Aladin“-Remake zu einem umstrittenen Film machten, setzt sich zwar auch im neuesten Marvel-Streifen fort. Und natürlich ist der Feminismus in „Black Widow“ nicht besonders differenziert – er muss es aber auch nicht sein. Als Comic-Verfilmungen drehen sich die Filme des MCUs um den grundsätzlichen Kampf zwischen gut und böse, Superheld*innen gegen Bösewichte. Wurden dafür in „Captain America: The First Avenger“ im Jahr 2011 noch genmanipulierte Nazis als Schurken herangezogen, sind es zehn Jahre später die grundsätzlich sexistischen Strukturen dieser Welt.

Danke, bitte mehr davon.

Natürlich macht „Black Widow“ in seinen 134 Minuten auch einige Fehler. Obwohl das Spionage-Thema voll aufgeht, traut sich der Film nicht, dieses konsequent bis zuletzt durchzuziehen. Stattdessen folgt im dritten Akt die übliche CGI-Schlacht mit gewaltigen Explosionen und unrealistischen Kampfszenen – im Endeffekt wohl auch Geschmackssache. Dennoch verliert „Black Widow“ in diesen Szenen den intimen Rachethriller-Charakter, mit dem Marvel Studios in der ersten Hälfte des Films eindeutig Mut zum Experimentieren gezeigt hat.

Black Widow
Einen actiongeladenen Showdown lässt sich der Film schließlich doch nicht nehmen.

Eine weitere Schwäche ist die Darstellung der russischen Schurken. Obwohl der Film bewusst mit den Elementen klassischer Spionagefilme spielt und dessen klischeehafte „Sowjets“ mit einem Augenzwinkern kommentiert, ist auch „Black Widow“ nicht frei von Stereotypen. Stichwort: Russenknast.

Letztlich beweist der Film aber vor allem, dass es auch nach 23 MCU-Streifen noch möglich ist, eine originelle Geschichte zu erzählen, die ebenso fesselt, wie Spaß macht. Die Gradwanderung zwischen klassischem Popcorn-Kino, das Marvel-Fans berechtigterweise erwarten, und Spionage-Thriller gelingt – und macht den Film zum interessantesten Marvel-Beitrag seit Taika Waititis „Thor: Ragnarok“. Sollte „Black Widow“ auch an den Kinokassen überzeugen, wäre das ein eindeutiges Zeichen an Marvel Studios: Lasst Regisseur*innen den kreativen Freiraum, mit Filmen wie diesem das Superhelden-Genre zu bereichern!

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