Paul McCartney: (Nicht) Am Krankenbett von Phil Collins

Herzige Stories, frei erfunden. Das Fake-Phänomen „Glurge“ ergreift die Popmusik.

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Eine Meldung, die Gefühle weckt: Anfang August war Paul McCartney zu Besuch im Krankenzimmer von Phil Collins in einem Londoner Hospital. An der Bettkante brachte er dem Drummer-Kollegen ein Ständchen mit „Hey Jude“.

Aufwendig gemacht, aber kompletter Fake!

Der Beitrag der Facebook-Seite „Rock & Roll Universe“ ist ausgestattet mit Bildern von einer McCartney-Collins-Umarmung und einem musizierenden Macca, während die Genesis-Legende von medizinischem Personal umgeben ist.

„Hey Jude“-Ständchen für kranken Collins …

Bis zum letzten Wochenende verzeichnete diese Fantasy-Kreation mehr als 88.000 Reaktionen und mehr als 16.000 Shares von diesem Beitrag
Aus der obersten Emozi-Schublade auch der entsprechende Beitext: „Heute Nachmittag herrschte ungewöhnliche Stille in den Fluren des Londoner Krankenhauses, als Paul McCartney leise eintraf, mit derselben alten Gitarre, die ihn seit Jahrzehnten begleitete. Im fünften Stock lag Phil Collins regungslos da – gebrechlich und blass nach monatelangen schweren Komplikationen aufgrund seiner Wirbelsäulen- und Herzerkrankungen. Als Paul den Raum betrat, öffnete Phil langsam die Augen, seine Lippen zitterten lautlos. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sich Paul hin und begann, „Hey Jude“ zu spielen – sanft und voller Emotionen. Jeder Text strahlte Wärme in den sterilen Raum aus, rührte die Krankenschwestern zu Tränen….“

Die amerikanische Faktenprüfer-Plattform Snopes machte sich die Mühe, diese „Story“ näher zu analysieren. Zumal es bereits ähnliche Schnurren gab, etwas als Bob Dylan mit einem Blumenstrauß bei Phil Collins aufgetaucht sein soll. Die KI-Erkennungswebsite Sightengine stellte hier wie dort fest, dass die Wahrscheinlichkeit der Bildergenerierung mit KI-Engines bei 99 % liegt.

McCartney: Rechtshänder und fünf Saiten – klar!

Dazu kommen grotesk-lustige Detailfehler: McCartney greift das Instrument im Rechtshänder-Modes. Dabei ist er bekanntlich Linkshänder. Aus seltsamen Gründen hat die gezeigte Gitarre auch nur fünf Saiten. Und McCartneys rechte Hand hat, wie Mickey Mouse im Disney-Comic, nur drei Finger und einen Daumen.

Die Snopes-Rechercheure machten sich handwerklich korrekt auch die Mühe das Collins‘ Management nach seinem aktuellen Gesundheitszustand zu befragen. Es gab zwar keine Bestätigung, ob er weiterhin im Krankenhaus wäre. Ende Juli kursierten jedoch verifizierte Meldungen klassischer Medien, dass er sich von einer Knieoperation erholt hätte.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass man sich nun mit dem Begriff „Glurge“ vertraut machen muss. Englischsprachige Wörterbücher definieren darunter: „oft als E-Mail-versendete Geschichten, die wahr und ergreifend erscheinen, aber meist erfunden und dabei stark sentimental sind“.

Auch Led-Zeppelin-Sänger Robert Plant war im Juli ein „Glurge“-Fall: Er soll Behelfs-Unterkünfte für die Opfer der großen Flutkatastrophe in Texas gebaut haben.

Ralf Niemczyk schreibt freiberuflich unter anderem für ROLLING STONE. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.