Aufgefallen? Darum braucht Taylor Swift keine Singles mehr!

Taylor Swift verzichtet auf Vorab-Singles für „The Life of a Showgirl“. Doch was verliert die Popikone damit an Kontext und Spannung?

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In Shakespeares „Hamlet“, Akt III, Szene I, sagt die Titelfigur zu Ophelia: „Gott hat euch ein Gesicht gegeben, und ihr macht euch ein anderes.“ Seine Anklage fällt am Ende eines Zusammenbruchs, in dem er behauptet, er habe sie nie geliebt. Später, nachdem Ophelia in einem von Blumen umgebenen Bach ertrunken ist, gesteht Hamlet in seiner Trauer: „Ich liebte Ophelia: Vierzigtausend Brüder könnten mit all ihrer Liebe meine nicht aufwiegen.“

Swifties leben von Andeutungen

Diese Tragödie ist für Taylor-Swift-Fans Pflichtlektüre im Vorfeld von „The Life of a Showgirl“, ihrem zwölften Studioalbum, das am Freitag erscheint. Die erste Single vom Album trägt den Titel „The Fate of Ophelia“, doch niemand weiß, wie Swift das Shakespeare-Drama interpretieren wird, bis das Album erscheint.

Bis jetzt haben die Fans nur Songtitel, mehrere Variantencover und wenige Details aus dem zweistündigen „New Heights“-Podcast, bei dem Swift zu Gast war, um sich ein Bild vom Album zu machen. Für viele Swifties reicht das schon, um zu wissen, dass sie das Album lieben werden – ohne es gehört zu haben. Einige haben sich bereits ihre Lieblingstracks „geclaimt“, nur aufgrund der Titel. Mehr als fünf Millionen Vorab-Speicherungen hat „The Life of a Showgirl“ auf Spotify. Die treue Fanbasis liefert die einfachste Erklärung, warum Swift möglicherweise nie wieder eine Vorab-Single veröffentlichen muss.

In der Popwelt nach der „Eras Tour“ ist Swift selbst zum Platzhalter für ihre Songs geworden. Die kulturübergreifende Live-Show hat die Musikerin dauerhaft etabliert. Ihre Basis ist so groß wie nie zuvor und funktioniert als unaufhaltsames Marketingwerkzeug. Selbst die distanziertesten Popmusik-Fans müssen keine Radiosingle hören, um zu wissen, dass Swift ein Album veröffentlicht – die Nachricht erreicht sie so oder so.

Einst Spiegelspiele, jetzt obsolet

Historisch gesehen brachten Swifts Vorab-Singles die breite Öffentlichkeit auf den Stand, wie sie sich seit dem letzten Album verändert hatte. Die wirklich aufschlussreichen Stücke waren meist Deep Cuts für die Hardcore-Fans. Kaum je entsprach die erste Single dem Klang oder der Richtung des Albums. Swift liebte Spiegeltricks. Und während manche Swifties Hamlet nicht kennen, kennen sie sich bestens mit Täuschungen aus – Swift nutzte sie oft.

Das erste Lebenszeichen von „Red“, „We Are Never Getting Back Together“, erschien im August 2012. Für ein paar Wochen schien es, als sei die Verbindung Swifts zur Countrymusik gekappt. Immerhin hatte sie Pop-Maestros wie Max Martin und Shellback ins Boot geholt. Doch als das Album im Oktober kam, war die Nashville-Twang-Gitarre weiterhin präsent. Diese Täuschung führte dann zu „Shake It Off“, der überdrehten, fast nervigen Pop-Hymne, die „1989“ eröffnete.

Dieser erste Eindruck von Pop-Taylor bestand aus quiekenden Saxophonen, „Haters gonna hate“ und „gettin’ down to this sick beat“. Es war extrem 2014: Meghan Trainors „All About That Bass“, Magics „Rude“ und Pharrells „Happy“ liefen bereits überall. Kidz Bop musste kaum Textzeilen ändern. Mit Dauer-Airplay verwandelte sich „Shake It Off“ schnell in „Turn It Off“. Doch erneut hielt Swift ihre besten Karten zurück: 1989 kam zwei Monate später mit „Blank Space“, „Style“, „Out of the Woods“, „Wildest Dreams“ und weiteren Klassikern, die den Kern des Albums bildeten.

Reputation, ME! und der große Knick

Ein ähnliches Spiel trieb sie mit „Look What You Made Me Do“ für „Reputation“. Doch inzwischen hatte sich die Landschaft verändert. Im Jahr zuvor war sie – wie sie selbst sagte – „bis an den Rand meiner Existenz gecancelt“ worden. Mit Selbstbild hatte sie zuvor schon gespielt; „Shake It Off“ tat es noch mit Humor. Diesmal jedoch wollte sie das Narrativ über ihre Karriere zerlegen. Die Schlange-Symbolik und bissigen Texte deuteten Rache an. Doch das Album selbst? Es war voller intensiver, selbstbewusster Liebeslieder – aber viele hörten nicht mehr hin.

Dann kam „ME!“, vielleicht die schlechteste Lead-Single der Popgeschichte. Das Video, eine pastellfarbene Fantasie, zeigte eine Schlange, die sich in Schmetterlinge verwandelte. Als Täuschungsmanöver hätte es nicht weiter vom eigentlichen Album entfernt sein können. Als die von Brendon Urie unterstützte Single im April 2019 erschien, war der Albumtitel „Lover“ noch nicht bekannt. Fast sieben Wochen lang bestand die Möglichkeit, dass das Album „Hey, kids! Spelling is fun!“ heißen könnte.

Swifties machten später „Cruel Summer“ selbst zur Hymne des Albums, katapultierten den Song vier Jahre nach Erscheinen auf Platz eins der Billboard Hot 100 und hielten ihn dort vier Wochen. Ab Lover beendete Swift das Konzept der klassischen Vorab-Singles endgültig. „Folklore“ erschien überraschend – „Cardigan“ wurde erst nach Release als Single behandelt. „Evermore“ kam mit „Willow“, „Midnights“ mit „Anti-Hero“, „The Tortured Poets Department“ mit „Fortnight“ (feat. Post Malone). „The Fate of Ophelia“ erfüllt nun die gleiche Rolle für „The Life of a Showgirl“.

Billie Eilish, Hayley Williams und neue Regeln

Swift ist nicht allein mit dieser Strategie. 2024 verzichtete Billie Eilish bei „Hit Me Hard and Soft“ komplett auf Singles. Sie sagte dem Rolling Stone: „Jedes Mal, wenn ein Künstler, den ich liebe, eine Single ohne Albumkontext herausbringt, neige ich dazu, sie zu hassen. Dieses Album ist wie eine Familie: Ich will nicht, dass ein einzelnes Kind allein im Raum steht.“

Eilish hatte „Lunch“ zunächst als Single gepusht, doch es war „Birds of a Feather“, das zu einem ihrer größten Karrieresongs wurde. Anfang 2025 wiederum veröffentlichte Hayley Williams ihr Soloalbum „Ego Death at a Bachelorette Party“ als 17 Einzelsingles. Fans fragten sich vor der offiziellen Tracklist, ob ihre Beziehung – und „Paramore“ – am Ende sei. Nach Release wurde jedoch „Parachute“, ein Bonustrack, der mit dem Album erschien, zum Fanliebling.

Für Überraschungsalben wie „Folklore“ oder Beyoncés „Lemonade“ gelten eigene Regeln: Die sofortige Wucht zählt. Doch „The Life of a Showgirl“ wurde 50 Tage vor Veröffentlichung angekündigt – inklusive fast einem Dutzend physischer Varianten. Mit Pre-Saves und Vorbestellungen steuert Swift auf einen massiven Verkaufsstart zu. Für weniger parasozial Investierte bleibt die Frage: Kann sie noch Hits liefern, die bleiben?

Hit oder nicht?

Seit „Anti-Hero“ (acht Wochen Platz eins, längster Run ihrer Karriere) hatte Swift keinen vergleichbaren Song. Doch „Anti-Hero“ wirkt längst nicht so allgegenwärtig wie „Blank Space“ oder „Love Story“. Selbst „Cruel Summer“ erscheint relevanter für ihr heutiges Hitprofil.

Realistisch betrachtet muss Swift nie wieder eine Vorab-Single veröffentlichen. Die Funktion ist obsolet – ihre Fanbasis garantiert ohnehin Aufmerksamkeit. Wer ihre Musik bislang nicht mag, wird auch durch eine neue Single nicht überzeugt. Doch nur weil sie es nicht muss, heißt das, dass sie es nicht sollte? Ihre früheren Vorab-Songs gaben Hinweise auf ihre Narrative und spiegelten die Beziehung zwischen ihr und uns. „The Life of a Showgirl“ entstand während einer Tour, die ihre größten Erfolge feierte. Wäre ein weiterer Mitsing-Song wirklich zu viel verlangt?