Coldplay ist meine Lieblingsband – aber ich hasse ihre Musik
Ein Essay über das Ende einer musikalischen Beziehung.

Das erste Konzert meines Lebens soll 2005 gewesen sein. Coldplay. Ich war fünf. Mein Vater erzählte mir das jedenfalls kürzlich beiläufig, als wäre es nichts Besonderes. Ich selbst habe keine Erinnerung daran. Wahrscheinlich habe ich auf seinen Schultern geschlafen, während Chris Martin „Yellow“ sang.
Wirklich bewusst dabei war ich drei Jahre später – 2008, „Viva la Vida“-Tour. Ich war neun Jahre alt und im Begriff, die wohl beste Setlist, die Coldplay je spielten, live zu hören. Doch dann? Schlief ich ein und verpasste die Hälfte. Dinge, die ich als Neunjährige im Jahr 2008 besser mal gemacht hätte: in Bitcoin investieren, Immobilien kaufen – und bei Coldplay wach bleiben.

Coldplay war immer da. Damals wusste ich noch nichts von Chris Martin, von Stadiontouren oder melancholischem Pop mit hymnischem Anspruch. Aber mein Vater wusste es. Und weil mein Vater ein Mann mit gutem Musikgeschmack ist, liefen ihre Alben bei uns rauf und runter. Im Auto, im Büro, im Wohnzimmer. Wie ein immerwährender Soundtrack meiner Kindheit. Mein Vater drehte die Lautstärke hoch bei „Clocks“, tippte im Takt aufs Lenkrad bei „In My Place“, sang schief mit bei „The Scientist“. Für mich waren diese Songs keine Tracks – sie waren Stimmungen, Momente, Jahreszeiten.
Das verflixte dritte Album
Und dann kam „X&Y“. Erschienen am 7. Juni 2005, ein paar Tage vor meinem sechsten Geburtstag. Mein Lieblingsalbum bis heute, auch wenn die Band das selbst wohl etwas anders bewerten würde. Coldplay befanden sich in einer interessanten Situation, als sie „X&Y“ machten. Die Platte wurde mehrmals verschoben und brachte eine Menge innerer Unruhen zwischen den Mitgliedern mit sich. Sie wussten selbst nicht, ob ihnen gefällt, was sie dort machten – eine Meinung, die bis heute durch ihre Köpfe zieht.
Natürlich kannte ich als Kind die Hits – erst später als Jugendliche entdeckte ich die Zwischenräume. Songs, die nicht auf jeder Playlist auftauchen, wie „Swallowed in the Sea“, „A Message“, „What If“. Und ganz am Ende: „Til Kingdom Come“. Ein Bonustrack, der eigentlich gar nicht wie Coldplay klingt, da er ursprünglich als Zusammenarbeit mit Johnny Cash gedacht war. Das erklärt, warum der Song sehr country-lastig ist. Für mich einer der besten Songs von Coldplay.
Jahre später kaufte ich das Album auf Vinyl. Großes Glück, gefunden auf Ebay. Bis ich es auspackte und auf der Rückseite „Til Kingdom Come“ nicht fand. Mein Lieblingssong fehlte. Ich war enttäuscht, aber legte es natürlich trotzdem auf. A-Seite durchgehört, dann die B-Seite. Und plötzlich, nach ein paar Sekunden Stille: „One, two …“ Chris Martins Stimme zählte ein – und mein Herz machte diesen kleinen Hüpfer, den es macht, wenn man etwas verloren Geglaubtes wiederfindet.
Es gibt Alben, die sich langsam ins Leben hineinweben. Naht um Naht. In Erinnerungen, Gespräche, Familiengeschichten. Sie sind mehr als Musik, sie sind Klang gewordene Zeit. „X&Y“ von Coldplay ist so ein Album für mich.
Der Rutsch ins Glatte
Alles, was nach „Viva la Vida or Death and All His Friends“ kam, versuche ich bis heute zu verdrängen – denn dort beginnt die Beziehungskrise. Coldplays Sound wurde synthetischer, die Alben austauschbarer, die Ästhetik immer mehr zum Konzept. Konfettiregen, leuchtende LED-Armbänder, ein bunt bemaltes Klavier. „Mylo Xyloto“, „Ghost Stories“, „A Head Full of Dreams“, „Everyday Life“ – ich kann bis heute nicht genau sagen, welcher Song zu welchem dieser Alben gehört. Alles klang plötzlich wie der Hintergrundsound für eine Apple-Werbung – eine einzige weichgezeichnete Klangfläche. Die Gitarre wich dem Synthie, der Schmerz der Strategie. Ich höre „My Universe“ und frage mich, ob das noch dieselbe Band ist, die mal „Trouble“ geschrieben hat. Musik, die früher wehtat, fühlt sich heute an wie Wattebällchen im Dolby-Mix.
Dann kam „Music of the Spheres“. Songs mit Emojis. Interludes, die klingen, als würde man mit geschlossenen Augen durch einen Meditations-Podcast scrollen. Futuristische Soundspielereien, bei denen ich mich frage, ob da überhaupt noch jemand mit echten Fingern Instrumente berührt hat. Coldplay verloren ihre Kante. Und mit ihr auch mich.
Es gibt durchaus Ausnahmen, die sich wie schmale Silberstreifen am Diskografie-Himmel der Band durch die neueren Tracklisten ziehen. „Mylo Xyloto“ macht im Großen und Ganzen Spaß und auch das neue Album „Moon Music“ macht streckenweise Hoffnung. Vor allem „All My Love“ – ein Song, der klingt, als hätte er sich rückwärts in meine Jugend geschlichen. Aber trotzdem bleibt der bittere Beigeschmack: Coldplay ist heute mehr Kunstprojekt als Band. Es ist bunt, laut, digital – und irgendwie weit weg von dem, was mich einmal berührt hat.
Wie viel Nostalgie ist zu viel?
Ja, Künstler sollen sich entwickeln dürfen. Aber Coldplays Entwicklung fühlt sich nicht an wie Wachsen – sondern wie Weggehen. Sie winken mir zu und sagen: Schön, dass du da warst, aber wir machen jetzt Kunst für H&M-Umkleidekabinen. Meine Lieblingsband ist zwar hübsch verpackt, überall erhältlich – aber irgendwie leer.
Und ich weiß nicht, wie lange ich das noch verteidigen kann. Denn irgendwann bleibt nur noch die Nostalgie. Ich klammere mich an Kindheitserinnerungen, an die Rückbank im Auto meines Vaters, an Alben, die so alt sind wie ich. Das Problem an Nostalgie ist: Sie liegt in der Vergangenheit. Sie wärmt zwar, aber bringt kein neues Feuer.
Coldplay und ich – wir sind noch zusammen, aber eigentlich schon lange getrennt. Es ist wie in einer unglücklichen Beziehung: Man weiß, dass es vorbei ist, aber irgendwas hält einen trotzdem. Vielleicht die Hoffnung, dass der andere sich doch nochmal ändert. Oder die Angst, dass man nie wieder so fühlen wird.
Wenn ich heute im Auto Coldplay höre, frage ich mich, wo wir uns verloren haben und ob es für mich nicht allmählich an der Zeit wäre, endlich aus dem Auto auszusteigen.