Jessie Murph: „Es ging mir nie darum, dass Leute wissen, wer ich bin“
Jessie Murph im Gespräch mit ROLLING STONE über ihre Kindheit, Gewalterfahrungen, feministische Satire und ihr jüngstes Album „Sex Hysteria“.
Sie kommt aus Alabama, ist bloß 1,50 Meter groß, hat einen schlechten Vater und würde gerne in den Himmel kommen. Das sind die ersten Worte des Songs „Gucci Mane“ der amerikanischen Sängerin Jessie Murph – und auch die ersten Worte, die sie an einem kühlen Montagabend vor der Menge singt, die sich im Berliner Südwesten versammelt hat.
Die Diskokugel dreht sich im Metropol, und mit ihrem langen, glitzernden Kleid in zartem Rosa und ihrer filigranen Figur könnte Jessie Murph wie eine Prinzessin wirken, wenn ihre zerzausten, pumaschwarzen Haare und ihr verführerisches Lächeln ihr nicht eher die Gestalt eines Racheengels verliehen. Mit ihrer durchdringenden, rauchigen Stimme und ihren ebenso verletzlichen wie rebellischen Balladen wirkt die junge Songwriterin wie eine in Rauch, Finsternis und Revolte reinkarnierte Dolly Parton – zerrissen und nach eigenem Willen schillernd wieder zusammengesetzt.
Doch Jessie Murph, geboren in Clarksville, Tennessee, und aufgewachsen in Huntsville, Alabama, ist keine Country-Sängerin, auch wenn das Internet sie manchmal so bezeichnet. „Ich hatte schon immer eine große Liebe für viele Genres, und das blutet durch meine eigene Musik durch. Ich könnte niemals ein Album machen, das nur einem Genre entspricht. Um meine Emotionen auszudrücken, möchte ich mich verschiedenster Sounds bedienen“, sagt Murph. „Ich bin absolut keine Country-Künstlerin. Aber ich sehe mich auch nicht als Popstar. Ich bin einfach nur Jessie.“
Murph macht bereits seit ihrer Kindheit Musik, begann als Teenagerin, Videos online zu stellen. 2021 wurde sie von Columbia Records unter Vertrag genommen; 2023 gelang ihr mit den Songs „Wild Ones“ und „High Road“ der Durchbruch.
„Als kleines Mädchen habe ich mir diesen Weg ausgesucht“
Heute hat sich die 21-Jährige mit drei Studioalben, Kooperationen mit Künstlern wie Shaboozey, Jelly Roll, Teddy Swims, Gucci Mane oder Lil Baby und Auftritten auf großen Bühnen wie Coachella einen Namen gemacht. Viral ging zuletzt ihr Song „Blue Strips“. Und ihre Popularität schwappt nun auch nach Europa über, wo sie mit ihrer „Worldwide Hysteria“-Tour von Großstadt zu Großstadt reist.
Kürzlich veröffentlichte Murph ihre dritte Platte „Sex Hysteria“, die sich ebenso verspielt wie kantig ins Ohr windet – ein Rasierklingentanz zwischen Widerstand und Verzweiflung, Rache und Zerbrechen. Mal triefen die Songs vor Herzschmerz, mal schallen sie wie eine Ohrfeige und ziehen unweigerlich auf die Tanzfläche.
„Ich gehe einfach dahin, wo mein Herz mich hinführt“, meint Murph aber ganz schlicht zwei Tage später während eines Telefonats mit dem ROLLING STONE.
Was weiß man schon mit 21 Jahren, hat Murph schon oft zu hören bekommen. „Alter hat nichts damit zu tun, was jemand in seinem Leben bereits gesehen oder welchen Schmerz jemand erlebt hat. Das stellen viele bei jungen Frauen infrage. Emotionen sind gültig, egal wie alt man ist“, sagt sie. „Und mir ist das sehr wichtig, da viele junge Menschen durch Erfahrungen gehen, die von anderen minimalisiert werden. Ich erinnere mich genau daran, dass ich Dinge so tief fühlte und nach etwas suchte, das dies anerkennt. Und das kann Musik. Sie heilt.“
Macht ihr der Erfolg mit nur 21 Jahren manchmal Angst? „Nein, ich habe keine Angst, weil ich genau da bin, wo ich sein wollte. Als kleines Mädchen habe ich mir diesen Weg ausgesucht, und das zu tun, wofür ich hier bin, erfüllt mich mit Dankbarkeit.“
Murph erinnert sich, wie ihre Mutter ihr einst ein Foto vom Kölner Dom zeigte. „Ich war so fasziniert und dachte nicht, dass ich ihn jemals selbst sehen könnte. Wo ich herkomme, verlassen viele Leute niemals ihren Geburtsort. Und heute Abend werde ich in Köln auf der Bühne stehen“, erzählt sie.
Sie erinnert sich noch genau an den Moment, in dem sie als Mädchen beschloss, Künstlerin zu werden. „Ich war 12 oder 13 Jahre alt und bekam aus dem Nichts dieses Bauchgefühl, dass Musik das ist, was ich mit meinem Leben machen will“, so Murph. „Ich lag in meinem Zimmer und weinte – nicht aus Trauer, sondern weil es so eine intensive Emotion und Intuition war.“ Von da an schrieb die junge Jessie nachts Songs und nahm Videos im Keller ihres Elternhauses auf.
„Es ging mir nur darum, mich durch Musik ausdrücken zu können“
Neun Jahre später hat „Sex Hysteria“ die Top 10 der Billboard 200 erreicht. Dabei ist das Album keine leichte Kost, erzählt es doch auch von Murphs Kindheit, die von der Alkoholsucht und häuslicher Gewalt ihres Vaters geprägt war. Erinnerungen, die bis heute ihre mentale Gesundheit beeinflussen und ihr Tage bescheren, an denen sie sich furchtbar fühlt – so wie an diesem Montag in Berlin, verrät sie.
Es fällt der 21-Jährigen nicht leicht, über ihre Kindheit zu sprechen. „Ich hatte nie das Bedürfnis, mich anderen verständlich zu machen. Ich war immer sehr zurückhaltend. Ich weiß nicht, ob beschämt das richtige Wort ist – aber ich war so scheu, über meine Erfahrungen zu sprechen. In erster Linie, weil ich niemandem aus meinem Privatleben und aus meiner Familie schaden wollte, indem ich diese Dinge in die Öffentlichkeit zerre. Das hat mir Angst gemacht“, erzählt Murph.
Auf der neuen Platte findet sich der Song „The Man That Came Back“. Darin singt sie: „You were raising hell, can’t forget the smell soaked into your clothes / 100 proof that burnt through that cigarette smoke / Always knew before you spoke, how the night was gonna go / I still remember you / Blacked out, face down, asleep in your car / And the violence, the sirens that rang in the dark / And the last straw, the worst of all, the breaking of my mother’s heart.“
Das Stück, das die Gewaltausbrüche ihres Vaters beschreibt, schrieb sie schon mit 17 Jahren, traute sich aber lange nicht, es zu veröffentlichen. „Ich dachte, ich würde es niemals herausbringen. Ich wusste nicht, wie sich meine Geschwister damit fühlen würden. Doch dann überkam mich die Erkenntnis, dass dieser Song irgendjemandem da draußen vielleicht helfen wird. Dass da jemand ist, der das hören muss“, sagt Murph. „Es ging mir nie darum, dass Leute wissen, wer ich bin. Es ging mir nur darum, mich durch Musik in Fülle ausdrücken zu können.“
Ein Song als Grund für alle anderen Songs
Ein Album, das ihre Geschichte erzählt, wäre ohne diesen Song unvollständig, meint sie. „Er ist der Grund für alle anderen Songs auf der Platte. Denn wenn man so aufwächst, wird das zu deiner Blaupause für Liebe. Du fängst an, danach zu suchen. Ich habe mich immer von Männern angezogen gefühlt, von denen ich hätte fernbleiben sollen. Weil sie das waren, was ich kannte.“ Auch deshalb ist „The Man That Came Back“ für sie ein Schlüsselmoment.
„Ich hatte einen großen Erkenntnismoment. Ich schrieb Musik über meine eigene romantische Situation und sah plötzlich so viele Ähnlichkeiten zwischen dieser Person und meinem Vater. Es wurde zu einem Spiegelprozess“, sagt Murph. „Alles geht auf diesen einen Song zurück. Er war das fehlende Puzzleteil, und nachdem ich es hinzugefügt hatte, ergab alles auf einmal Sinn.“
Für Murph waren die letzten Jahre eine Lernkurve, ihre Kindheit hinter sich zu lassen. „Therapie hilft. Und man lernt viel durch Songwriting. Lieder sind wie Gemälde von Erinnerungen, sie zwingen mich, Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich versuche einfach, als Person und Künstlerin zu wachsen.“
Musik war als Kind ihr Trost, heute wird sie davon beflügelt. „Das ist auch mein Rat an alle, die durch Ähnliches gehen. Finde eine Leidenschaft, irgendetwas, das dich entkommen lässt. Und man darf nicht vergessen, dass man geliebt ist, auch wenn es sich nicht so anfühlt“, sagt Murph eindringlich, dann der Hauch eines Lächelns. „Das Gras ist grüner auf der anderen Seite des Regenbogens, oder wie sagt man?“
Sie sei noch nicht bereit, ihrem Vater zu verzeihen, singt Murph in dem Song. Aber sie würde es gerne, sagt sie heute. „Ich möchte dahin kommen. Denn nicht zu verzeihen, tut am Ende nur mir weh. Vergebung ist für mich, nicht für ihn. Aber erst muss ich an mir arbeiten, weil mir das gar nicht leicht fällt. Vor allem deshalb, weil ich immer noch sehe, was das meiner Familie und meinen Geschwistern angetan hat. Und ich liebe meine Familie mehr als alles andere auf der Welt“, sagt sie. „Außerdem bin ich eine nachtragende Person.“ Murph lacht.
„Alleinerziehende Mütter sind Heilige“
Ihre Kindheit, so ist sie überzeugt, hat sie aber auch Gutes gelehrt. „Ich bin eine sehr starke Frau. Weil ich gesehen habe, wie stark meine Mutter ist. Daher kommt auch meine Entschlossenheit. Sie hat sich alleine um drei Kinder gekümmert, obwohl sie selbst hart kämpfen musste. Ich finde, alleinerziehende Mütter sind Heilige.“
Durch ihre Musik und ihre überlegte, liebevolle Art steht Murph für ein Frauenbild, das Macht, Hass und Zorn ebenso Raum gibt wie Schwäche, Empfindsamkeit und Verletzlichkeit. Dabei hat sie zuletzt mit ihrem eigenen Frauenbild eine Kontroverse ausgelöst. Auf dem neuen Album findet sich nämlich auch der Song „1965“, in dem Murph singt, sie wolle so geliebt werden, als sei es das Jahr 1965. „You’d go to work, and I’d stay home and sing and do fun things / I might get a little slap-slap, but you wouldn’t hit me on Snapchat“, heißt es darin. Und weiter: „I think I’d give up a few rights / If you would just love me like it’s 1965.“
In Zeiten, in denen Frauenrechte unter Beschuss stehen, halten manche den Song bestenfalls für zynisch, schlimmstenfalls für antifeministisch. „Ich habe den Song als satirischen Kommentar zu den 1960ern und auch zur heutigen Dating-Welt geschrieben“, stellt Murph klar. „Das ging den Leuten über den Kopf, und das ist nicht mein Problem. Es ist doch offensichtlich, dass das Satire ist. Der Song fängt damit an, dass Frauen in die Küche gehören – offensichtlich glaube ich das nicht“, sagt sie.
Heutzutage, kritisiert sie, hörten sich Menschen die ersten zehn Sekunden eines Songs an und bildeten sofort eine Meinung. „Wenn man sich das ganze Lied anhört, merkt man, dass es nur schwarzer Humor ist. Aber es ist nicht mein Job, sicherzugehen, dass jeder alles versteht. Ich polarisiere gerne. Ich habe es lieber, dass mich die Hälfte liebt und die andere Hälfte hasst, als dass mich alle okay finden.“
„1965“ mag in der aktuellen politischen Situation in den USA, in der Tradwives mehr Unterstützung vom Präsidenten erhalten als Frauenrechtsaktivisten, provozieren. Wer aber Murphs übrigen Katalog hört und sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, wird wahrscheinlich zugestehen, dass „1965“ aus dem Mund einer Frau, die mit 21 Jahren 14 Millionen monatliche Spotify-Hörer:innen und selbst Gewalterfahrungen gemacht hat, als Satire lesbar ist.
„Ich muss lernen, mich selbst besser zu behandeln“
Wo geht es hin für Jessie Murph, die es schon mit 21 Jahren zu künstlerischem und kommerziellem Erfolg gebracht hat? „Mein größter Traum ist es, einen Grammy zu gewinnen“, sagt sie und strahlt. „Und persönlich möchte ich lernen, mich selbst besser zu behandeln. Ich muss Grenzen setzen und nicht immer alle anderen an erste Stelle stellen“, meint Murph. „Wenn man in seinen Zwanzigern ist, realisiert man: Oh fuck, ich muss mein Leben in Ordnung bringen. Und ich sollte anfangen, mich selbst mehr zu lieben und freundlicher zu mir zu sein.“
Auch Dankbarkeit ist ein wichtiger Begriff für sie. „Manchmal fühle ich mich so scheiße, und dann halte ich inne und denke: Moment mal, ich habe ein Dach über dem Kopf, Essen im Kühlschrank, Menschen, die mich lieben, und meine Familie ist gesund.“ Dankbarkeit verändere alles, meint sie – und Freundlichkeit ebenso. „Was ich am meisten hasse, sind Leute, die unfreundlich sind, andere verurteilen oder sich über andere lustig machen. Sei liebevoll!“
Diese Lektion hat Jessie Murph als Kind auf die härteste Weise gelernt. Wenn sie etwas zu ihrem zehnjährigen Ich sagen könnte, was wäre es? „Ich würde gar nichts sagen – ich will ja schließlich nicht das Schicksal verändern“, sagt Murph und lächelt. „Aber ich würde ihr eine ganz feste Umarmung geben.“
Mit dieser Einstellung kann sie auch an einem regnerischen Montag in Berlin einen schlechten Tag in einen künstlerischen Akt verwandeln. An solchen Tagen mag ihr Lächeln zittern – aber nicht ihre Stimme.