Kraftklub Live: Ein Woodstock des Ostens

Punkrock mit pädagogischer Note. Der Chemnitz-Clan lässt es in der Wuhlheide mächtig krachen

Zwei Tage ausverkaufte Parkbühne, unweit des Stadions von Union Berlin. Ein rauschendes Doppelkonzert von Kraftklub vor zweimal 17.000 Menschen, das zu einem Hochamt des Ossi-Selbstbewusstseins wird.

In der auf Bundesliga-Level vollen S-Bahn in Richtung Köpenick hört man vor allem das Ost-Berlin-Brandenburgische Idiom. Und neben allerlei Merchandising-Kreationen wie „Kraftklub, Karl-Marx-Stadt“ sind auch viele rot-weiße Fußballjerseys des Champions-League-Teilnehmers aus der Alten Försterei zu sehen.

Die Vorband namens Tränen („Stures Dummes Herz“) entpuppt sich als Erweiterung des Chemnitz-Clans rund um die Patchwork-Familie Kummer. Neben Sängerin Gwen Dolyn fährt Kraftklub-Gitarrist Steffen Thiede (alias Israel) auf einem Nebenprojekt-Gleis. Zackiger Elektro-Punk mit New-Wave-Färbung.

Das Publikum des ausverkauften Live-Dopplers zeigt sich weitgehend frei von jeglicher Berlin-Hipness. Grundfarbe der Menge ist eher Metal-Schwarz mit grauen Einsprengseln. An den Merch-Ständen herrscht Hochbetrieb: neue Kraftklub-Trendfarbe. Weiß!

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Am ersten Konzertabend am Freitag (04. August) schallt es aus dem weiten Rund beim Song „Duell der Letzten“ vielstimmig „Nazis raus!“. Soviel zur Standort-Bestimmung. Dazu gibt es mächtig Karamba-Karacho-Stimmung mit volle Pulle Glitzer-Konfetti zum Hit „In meinem Kopf“ vom aktuellen „Kargo“-Album.

Die epischen Ansagen von Sänger Felix Kummer schwelgen in gelebter Achtsamkeit. Ohne die Ost-Berliner Kollegen explizit zu erwähnen, präsentiert man sich als eine Art Gegen-Rammstein. Tendenz: Wir haben uns alle lieb, auch wenn wir im Moshpit toben, der sich hier in Form eines Herzens herausbildet. Auch das muss man ohne Choreographie erst einmal hinbekommen.

Bis auf wenige Kuschelpaare tanzt und tobt die Wuhlheide bis in die letzten Reihen wild herum. Auch wenn einzelne Kraftklub-Mitglieder von ihrem Signature-Song von 2018 „Ich geh nicht nach Berlin“ längst durch Teilzeit-Standortwechsel selbst abgeschworen haben. Zumindest die Botschaft steht noch:

„Jetzt wohn‘ ich in Berlin seit 18 Monaten und ich muss sagen, ich bin echt angekomm’n (Aha). Meine Kleidung unterstreicht meinen Charakter. Meine Brille ist nicht vintage, verdammt, die ist retro! Undercut und Jutebeutel. Ich trink‘ die Club Mate oder gibt’s den Caffè Latte auch mit Sojamilch? (I like); Die große Frage: Schreibt mich irgendjemand auf die Gästeliste? (Äh, naja…) – Bitte, bitte, bitte!“.

Fünf Jahre danach sind Kraftklub zu einer neuen Volkspartei geworden, und beim Bad im Publikum teilen sie die Menge wie seinerzeit Moses das Rote Meer. Es gelingt immerhin, zwei ganze Songs jenseits der Bühne zu spielen.

Vorsänger Kummer fragt sein Publikum, woher man denn bitte schön komme: Meldung per Handzeichen! Und der Berlin-Anteil ist deutlich in der Minderheit. Der Live-Beweis kommt so denn noch aus dem 60 Kilometer entfernten Kotzen (kein Scherz: Die auf die Bühne geholte Dame heißt Leini, und nicht Leni, wie sie mit Nachdruck betont).

Sie darf am bereitstehenden Glücksrad, wie es auch Elvis Costello auf seinen Live-Shows zu nutzen pflegt, drehen. Ihr Wunschsong wird „zufälligerweise“ ausgewählt und heißt „Scheissindiedisco“, was man natürlich auch, und vielfach getan, als „Scheiß IN DIE DISCO“ gröhlen kann. Als es zur Zugabe „Blaues Licht“ und „Ein Song reicht“ setzt, macht bereits die Saga vom legendären Auftritt die Runde.

Wenn für Herbert Grönemeyer das „Bochum-Konzert“ 1986 im dortigen Ruhrstadion an der Castroper Straße zu einem Meilenstein seiner Karriere geworden ist, so könnte sich „Wuhlheide 23“ als legendäres Datum in der künftigen Vita von Kraftklub manifestieren.

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