Miles Davis – Kind Of Blue

„Kind Of Blue“ ist einer der seltenen Fälle, in denen ein Album sowohl für die Entwicklung seines Genres wichtige Impulse setzt, als auch große und dauerhafte Popularität erlangt. Wer in der Kunst in neue Bereiche vordringt, riskiert ja in aller Regel, dass ihm ein großer Teil des Publikums zunächst nicht folgen kann – das ewige Drama der Avantgarde.

Dass Davis mit seinem Meisterwerk der modalen Improvisation praktisch aus dem Stand auf zigtausende offene Ohren stieß, lag daran, dass dessen Neuerungen sich nicht zuletzt um das Thema „Vereinfachung“ drehten: Als Davis an zwei Nachmittagen im Frühjahr 1959 sein Sextett mit den Saxophonisten John Coltrane und Julian Adderley, dem Pianisten Bill Evans (und für ein Stück Wynton Kelly) sowie der Rhythm Section aus dem Drummer Jimmie Cobb und dem Bassisten Paul Chambers versammelte, um in den Columbia Studios in einer umgewidmeten Kirche in der 30. Straße in New York ein Album aufzunehmen, hatte er äußerlich betrachtet auch nicht viel in der Hand. Ein paar Zettel mit hingekritzelten Tonleitern-das war’s. Aber natürlich hatte es schon lange zuvor in seinem Kopf zu arbeiten begonnen. Unter dem Einfluss von musikalischen Neuerern wie dem armenischen Komponisten Aram Khatchaturian, aber auch dem aus japanischen Malerei bekannten Konzept der „Spontankunst“ bemühte sich Miles Davis, seine Musik aus den erstarrten Schemata des Bop zu befreien, ihr mit einer Philosophie des „weniger ist mehr“ neue Intensität zu verleihen. So gab er seinen Mitmusikern zu Beginn der beiden, alles in allem neunstündigen „Kind-Of-Blue“-Sessions nur minimale, eher skizzenhafte Vorgaben: einfache Melodiekürzel (von denen die Bassfigur des Openers „So What“, das Bläserthema aus „Freddie Freeloader“ und das Grundriff zu „All Blues“ inzwischen zu den meistgesampelten Jazzmotiven überhaupt gehören) und ein paar Tonskalen überdrastischentschlackte Harmoniefolgen. Seine Mitstreiter Coltrane, Evans, Adderley & Co. reagierten darauf mit stiller Ekstase: Endlich befreit von einengenden Akkordgerüsten, spielten sie mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit und Eleganz. Ihre Solos strahlen eine geradezu mirakulöse Gleichzeitigkeit von Klarheit und Gefühlstiefe aus, die die bislang im Bop üblichen hitzigen Jagden durch komplexe Akkordketten wie leeren Lärm erscheinen ließen.

Dank seiner Aura der entspannten Melancholie und des coolen Understatement, seiner melodischen Schönheit und seines makellosen Flows sprach und spricht „Kind Of Blue“ ein Publikum an, das weit über die üblichen Jazz-Zirkel hinausgeht. Mit weltweit mehr als sechs Millionen verkauften Exemplaren ist das Album bis heute einer der Dauer-Superseller des Jazz und ein Manifest des Urban Cool schlechthin.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates