Musik der Ukraine: Mit dem Bandbus in den Krieg

Ein Konzert der ukrainischen Band Luna endete vor genau einem Jahr in einer Kampfzone. ROLLING STONE war dabei

Foto: AFP via Getty Images. DIMITAR DILKOFF. All rights reserved.

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Eine Reportage aus der ROLLING-STONE-Ausgabe 12/22.

Samstagabend kurz nach 21 Uhr herrscht Gedränge vor dem Hauptbahnhof in Kyiv. Es ist frostig und düster, die städtische Beleuchtung auf ein Mindestmaß reduziert. Stromknappheit wie überall in der Ukraine, seit die russische Armee gezielt die Energieversorgung zerstört. Nur die Baracken neben dem Haupteingang, wo es Wurstbrote, Wodka und Bierbüchsen gibt, leuchten neonhell. Fahrzeuge schieben sich knäuelweise vor die Ausstiegszone. Für Betrieb sorgen vor allem die Nachtzüge, die in dichter Frequenz in alle erreichbaren Regionen fahren. Sie sind Menschenverteiler zwischen Hauptstadt, Familie und Front. Eine Soldatin wuchtet sich ihren Seesack auf die Schultern. Freundinnen und Ehefrauen fallen Männern in Kampfdress um den Hals. Kleinere Truppenverbände betreten gemeinsam die Eingangshalle, wo ihr Gepäck durchleuchtet wird. Eine Massenszene in Sepiatönen, als würden hier Dreharbeiten stattfinden für eine Netflix-Serie über irgendeinen Krieg. Aber niemand schreit: „Alles auf Position uuund Action!“ Denn alles ist echt. Ein echter Samstag. Kyiv, der 10. Dezember.

Ich warte neben den wuchtigen Bahnhofstüren auf das Orga-Team der NGO Music Saves UA, genauer gesagt, auf Vladyslav „Vlad“ Yaremchuk. Mit seinen 26 Jahren hat Vlad bislang das Atlas Weekend Festival in Kyiv organisiert, das zuletzt mit 600.000 Fans eines der größten in ganz Mittel- und Osteuropa war. Der Ex-DJ und Booker hatte mir bei einem Gespräch über die Lage der Popszene unter Drohnenbeschuss einen erstaunlichen Vorschlag gemacht: ob ich nicht mitkommen wolle auf eine organisierte Rundtour entlang der Kampfzonen am Schwarzen Meer.

Da seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 kaum Tourneen und erst recht keine Festivals mit internationalen Bands in der Ukraine mehr möglich sind, hatte der Veranstalterverband UAME kurzerhand eine Hilfsorganisation für Zivilisten ins Leben gerufen. Man wollte nicht tatenlos herumsitzen. Eine Alternative auch zum freiwilligen Einrücken in die Armee. Nun helfen Musikschaffende unter dem „Music Saves UA“-Signum nicht nur beim Spendensammeln. So wurde und wird bei der Evakuierung aus besetzten Gebieten in den Regionen Donezk und Charkiw angepackt, eine Anlaufstelle namens Bakota Hub ist für Vertriebene in der Region Khmelnytskyi eingerichtet. Dazu das Hilfsgüter-Hauptquartier in Dnipro. Es hilft, eine Grundversorgung für Menschen aus zerschossenen Städten zu organisieren. Roadies im Sanitätsdienst. Equipmentlaster transportieren Hilfsgüter statt Bühnentechnik. Überhaupt sind es im ganzen Land viele junge Menschen, die sich als Volunteers in pragmatischen Hilfstrupps organisieren.

Per Zug und Kleinbus soll eine kleine Gruppe internationaler Unterstützer – vom Nachtbürger- meister aus Montreal bis zu den Gründern des Technoclubs Bassiani in Tbilissi/Georgien – direkte Einblicke in die Lage bekommen. Ilze Jankovska ist aus Riga dabei. Sie erzählt, dass sie sich im Vorfeld mit dem Veto ihrer Frau auseinandersetzen musste: Ist das nicht viel zu gefährlich? Darf man auf einen Pop-Trip gehen, wo täglich Menschen sterben? Am Ende ist sie doch nach Kyiv gekommen – Ängste werden ausgeblendet. Schließlich will sie ihrer lettischen Community berichten, was sie gesehen hat. Eine Route, die vom rückeroberten Cherson über Odessa nach Lwiw in der Westukraine führt. Für mich ist diese Reise eine zufällige Fügung des Lebens. Gleich die zweite bei dieser musikalischen Klassenfahrt Richtung Krieg.

Bei ihrem Konzert im Berliner Indie-Club Gretchen hatte ich nämlich die Band Luna aus Kyiv um die Sängerin Kristina Voloshchuk kennengelernt. Mit Anfang zwanzig als Model, Fotografin und Videomacherin gestartet, begann die 32-jährige Ukrainerin im Zuge der Maidan-Revolution mit der Produktion eigener Songs. Komplett in DIY gefertigt, gingen diese auf der Newcomerplattform Bandcamp viral, und bereits im August 2016 hieß es im Modemagazin „Vogue“: „Das unwahrscheinlichste Gesicht, das je eine musikalische Revolution angeführt hat.“

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Kristina sagt über sich selbst, dass sie bei Social Media durchaus suchtgefährdet sei. Auf Instagram folgen ihr knapp 190.000 Fans. So ziemlich jeder Schlenker in ihrer rasanten Karriere lässt sich im Internet verfolgen. Eine klassische Plattenfirma haben Luna aber bislang dennoch nicht. Am Day Off nach dem Berliner Konzert schaute ich mit Kristina und dem Bassisten ihrer Band und seit 2020 auch Ehemann, Oleksandr Voloshchuk, das Fußball-WM-Spiel der Deutschen gegen Spanien. Beim Bier wurde die Idee geboren, dass ich mir einmal mit den Augen des Kulturbeobachters anschaue, ob und wie Popmusik unter extremen Bedingungen überhaupt funktionieren kann. Sie luden mich ein, einfach in die Ukraine mitzukommen.

Rock’n’roll und all die nachfolgenden Jugendkulturen sind in der zivilen Ära nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, zumeist im pazifistischen Duktus von „Love, Peace & Under- standing“. Und nun Pop, todbringende Raketen und offensiv herausgestellter Patriotismus? Nicht nur bei ihren internationalen Konzerten schwenken Luna die blau-gelbe Flagge. Die anfängliche Skepsis von wegen „cheap thrills on other people’s misery?“ erweist sich vor Ort als unbegründet. „In Zeiten von Krieg und Besatzung ist auch der direkte Kulturaustausch wichtig. Erzählen Sie zu Hause, was Sie gesehen haben“, sagt etwa der Oberbürgermeister von Lwiw bei einem unprätentiösen Empfang mit heißer Schokolade im dortigen Rathaus.

Ein zweiter Ansatz war die Ukraine selbst. Jenes riesige Land zwischen Galizien und dem Asowschen Meer, das offenbar erst durch die Tragik der russischen Invasion zu einer popkulturellen Identität gefunden hat. Nach den Gesetzen des Medienmarkts bekommen nun so unterschiedliche Künstler:innen wie die Rapperin Alyona Alyona, der Pop-Crooner Ivan Dorn, die Riot-Grrrl-Band Death Pill aus Kyiv, ESC-Nominee Alina Pash („Shadows Of Forgotten Ancestors“) oder die percussionlastige Frauenband DakhaBrakha, die seit Längerem in Westeuropa tourt, individuelle Konturen, die über die Kategorie „Irgendwie Weltmusik“ hinausgehen. Der Sieg des Kalush Orchestras beim Eurovision Song Contest 2022 mit dem Powersong „Stefania“ ist einigen ukrainischen Kollegen fast schon ein wenig peinlich. „Rapper in Folklore-Kostümen“ gehört noch zu den harmloseren Kommentaren.

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Mein Entschluss, tatsächlich mit dem Bandbus in die Ukraine zu fahren, fällt nach einem furiosen Auftritt von Luna in einem Kellerclub in Prag. Ein nahezu ausverkauftes New-Wave-Feuerwerk mit ukrainischen und russischen Exilanten und Sängerin Kristina Voloshchuk in einem schwarzen Bond-Girl-Einteiler. Am nächsten Morgen startet der Tourbus unweit des Wenzelsplatzes. Von dort geht es in rasantem Tempo über ausgebaute EU-Autobahnen in Tschechien und Südostpolen durch die Nacht nach Lwiw und von dort weiter per Zug in die Hauptstadt Kyiv.

WINTERKRIEG UND HELDENSAGEN

Eine Woche später, zum Ende meines Kyiv-Aufenthalts, lässt die NGO-Crew auf sich warten. Mir spukt angesichts der Situation vor dem Bahnhofsgebäude das Diktum der russischen Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk durch den Kopf: „Die Deutschen sind nur Konsumenten demokratischer Werte.“ Showphilosophen wie Richard David Precht oder Svenja Flaßpöhler hatten im Talkshowsessel „Waffenstillstand jetzt!“ gefordert – in einer offenen Sommerdepesche an Kanzler Scholz. Als ob der auch nur ansatzweise zuständig gewesen wäre für ein Ende von Putins von Imperialismus und quasi-religiösem Wahn getriggerter Invasion. Nirgendwo in Osteuropa außer vielleicht in Orbáns Ungarn bringt man Verständnis für diese deutschen Schlaumeierpirouetten auf. Die Wirklichkeit ist grauer, stromloser und brutaler.

Zwei Stunden vor der Abfahrt in Richtung Schwarzes Meer beginnt das Konzert von Luna in der Mehrzweckhalle Stereo Plaza am Rande eines Industriegebiets in den Outskirts der ukrainischen Hauptstadt. Früh am Abend, ab 22 Uhr, beginnt in Kyiv die Sperrstunde, das während meiner Woche dort relative Ruhe erlebt hat: mit geöffneten Restaurants, Geschäften und einer aufgekratzten Hochzeitsgesellschaft in meinem Hotel. Luna spielen ein Benefizkonzert zum Abschluss ihrer kleinen Europatour: Warschau, Berlin, Tel Aviv, Prag und als Finale die Heimatstadt Kyiv. Der Ticketerlös kommt lokalen Hilfsorganisationen zugute. Der Eintritt kostet 600 Hrywnja, etwa 15 Euro. Soldaten mit Wehrpass zahlen nichts.

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Die 5000er-Halle ist nicht geheizt. Zur Versorgungssicherheit knattern im Hof Generatoren. In der Halle erscheint alles stocknormal: ein schmucklos-moderner Eventpalast, der auch in Iserlohn stehen könnte. Bier vom Ambev-Konzern: US-Budweiser, Leffe aus Belgien. Die Gastronomie ist nach dem Ibiza-Prinzip organisiert: Auf der Empore kann oligarchenmäßig im abgesperrten Bereich flaschenweise Wodka oder Rotwein am Tisch gesüffelt werden. Backstage herrscht Heimspielatmosphäre. Der männliche Teil der Band lädt zu Talisker-Whisky aus dem Catering. Soundmixer Kostantin Kostenko erzählt, dass er seine Eltern aus dem ostukrainischen Charkow evakuiert hat. Er bringt den oft erzählten Gag von den „vier Sashas“ („Sasha“ ist die Kurzform von „Aleksandr/Oleksandr“). Neben Bandleader Oleksandr Voloshchuk (Bass) sind da noch Aleksandr Poliyarov (Schlagzeug), Oleksandr Protsenko (Saxofon) und Oleksandr Kariev (Gitarre). Die Luna-Chefin samt Styling-Crew hat ihren eigenen Rückzugsraum. Der elfjährige Sohn aus Kristinas erster Ehe mit dem Produzenten Yury Bardash turnt mit Keinem Freund herum. Ein Familientreff zum Tourabschluss.

Kristina trägt heute ein langes rotes Abendkleid, Doc Martens, einen glitzernden Kopfputz sowie eine weiße Vintage-Schneeleopardenjacke. Spätestens bei den ravelastigen Tracks von Lunas 2020er-EP „Fata Morgana“ geht das Publikum komplett steil. Sich küssende, offensichtlich angeschickerte Mädchen plumpsen tanzend in die Menge und werden wieder aufgehoben. Der Krieg scheint für gut neunzig Minuten ganz weit weg. Und ähnlich wie im sporadisch unter Stromausfallbedingungen geöffneten Kyiver Technotempel Closer sagen Freunde der Band unisono so was wie: „Man muss ja weiterleben.“ Und dazu gehören eben auch Konzerte und Clubs. Aus der Distanz wirkt ein Auftritt von Luna, als würde Helene Fischer bei, sagen wir, Slayer singen. Einmal wälzt Kristina ihren langen, feingliedrigen Körper expressiv auf dem Bühnenboden herum. Dann wieder gibt sie routiniert die Kate Bush, da kommt ihr bei den armrudernden Tanzbewegungen ihre Ballettausbildung als Teenager zugute. Der Titel ihres Albums von 2018, „Zakoldovannye sny“ („Verzauberte Träume“), ist so etwas wie ein Leitmotiv.

Luna vermischt ukrainische Volksweisen, die sie mit ihrem Großvater sang, mit Retropop-Entwürfen der 90er-Jahre. Im Interview zählt sie Portishead, Radiohead oder auch die Power-Raver von Underworld zu ihren Favoriten. Mit diesem Mash-up überbrückt die Band die Kluft im ukrainischen Showbiz zwischen dem „Oligarchenpop“ nach dem Großproduzentenprinzip à la Frank Farian und der zersplitterten Indie-Szene. Voloshchuks Tracks und besonders die Videos erinnern an die großen bonbonfarbenen Inszenierungen der MTV-Achtziger und der Wille zur Inszenierung an die frühe Madonna. Live klingt die Band weitaus rauer, als ihre Aufnahmen vermuten lassen – dunkle Vibes und Elektronik. Kristina Voloshchuk ist eine Art ukrainischer Lana Del Rey mit deutlich mehr Wumms.

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Zum Beispiel ihr Song „Sl’ozi iljut’ divchata“ („Mädchen vergießen ihre Tränen“). Er hat ein typisches Popthema, verwoben mit ukrainischen Volksweisen: Frau verliebt sich und ist am Anfang glücklich. Für andere Menschen bleibt keine Zeit mehr. Letztlich ist er der Falsche, man trauert mit den Freunden dieser Liebe nach. Eine Story in folkloristisch-mythologischen Bildern vom Fluss und der Weide. Oben am Flusslauf vergießen Mädchen Tränen der unerwiderten Liebe, und unter der Weide singen sie Lieder von denen, die glücklich ihre wahre Liebe gefunden haben. Eine sphärische Ballade, in der Kristina ihren „traurigen Tanz“ aufführt.

„In Kriegszeiten werden Beziehungen noch wertvoller, und einsame Menschen sind noch mehr darauf bedacht, ihre Liebe zu finden. Jeder Tag ist wie ein Kräftemessen, bei dem sich die Seelen der Menschen gegenseitig auf die Probe stellen. Also sei zuerst dankbar für dein Leben, respektiere dich selbst, liebe dich selbst, und erst dann verliebe dich und liebe“, sagt Kristina Voloshchuk mit betontem Pathos. Zusammen mit ihrem Mann und Soundpartner betreibt sie als Gegenentwurf zu Luna auch das zackige Electro-Projekt Der Diktatur. Der falsche deutsche Artikel ist hier Motto, er klingt ein wenig nach Rammstein. Harter Sound in Zeiten der Drohnen und Raketen.

INNER CITY PROPAGANDA WAR

In den Kellerräumen des Global-Runner-Hostels ist die Cafébar Lypa untergebracht. Aufgrund seiner Kellerlage fungierte das Lypa während der ersten Kriegswochen als Luftschutzraum mit Barbtrieb. Wie auch in der Metro wurde hier gesungen und sich gegenseitig Mut gemacht. Eine Bar für flüssige Ablenkung stand ja bereit. Inzwischen ist normaler Schank- und Küchenbetrieb möglich, zumindest bis 22 Uhr. Eine junge Frau spielt mit ihren Freunden Billard. Sie trägt einen Kapuzenpullover, der vom Design her die Mainstream-Marke Stone Island kopiert. „Stolen Island“ lautet bei dieser Fake-Kreation der Frontslogan. Die Erläuterung dazu erfolgt kommentarlos durch Zahlen auf der Rückenpartie: „1783“, „1944“ und „2014“. Historische Daten von russischen oder sowjetischen Zugriffen auf die Krim. Wie Mariupol eine nationale Wunde.

Vor dem monumentalen Kyiver Haus der Stadtverwaltung auf der zentralen Meile Chreschtschatyk ist ein rostiger Stahlkäfig aufgestellt, mit einem Spiegel als rückseitige Wand. Man blickt durch Gitterstäbe auf sich selbst. Eine künstlerische Arbeit mit der Botschaft: „Wir alle sind eingekerkert.“ In Käfigen wie diesem hat die russische Justiz die gefangenen Kämpfer aus dem eingekesselten Asow-Stahlwerk in einem Schauprozess präsentiert. An der Fassade des Gebäudes hängt ein martialisches Megabanner mit englischer Aufschrift: „Free the Azovstal Defenders“. Die Mariupol-Tragödie als Heldenepos. Diese Plakate, die auch anderswo in der Stadt vor kommunalen Fassaden hängen, erinnern an Werbung für martialische Computerspiele. Ein paar Chreschtschatyk-Meter weiter ein figürlicher Ölschinken der explodierenden Brücke auf die Krim. Es sind noch frische Nationalerzählungen, die seit dem Kriegsbeginn im kollektiven Bewusstsein der ukrainischen Bevölkerung leben.

Aber es gibt auch differenziertere Ansichten. „Wir Ukrainer sind gut darin, gegen etwas zusammenzuhalten“, sagt Luna-Bassist Sasha Voloshchuk. „Schwieriger wird es dann, für etwas zu sein. Da zerfällt die Einigkeit schnell in zwei, drei gegensätzliche Lager.“ Von Prag per Bandbus kommend, hatten wir wegen der langen Kontrollen an der polnisch-ukrainischen Grenze den ersten Nachtzug von Lwiw nach Kyiv verpasst. Kein Problem – drei Stunden später fuhr der nächste. Im erhabenen Wartesaal des Zentralbahnhofs von Lwiw lassen sich trotz Sperrstunde noch Stullen und (eigentlich verbotenes) Bier ergattern. In dem Zug aus sowjetischer Zeit gibt es auf den Gängen Geschichten aus naher Vergangenheit: Die Luna-Crew erzählt von einer Episode bei einem Konzert in Sankt Petersburg – vor dem Krieg. Sie waren normale Grenzgänger, die in Warschau wegen fehlender Corona-Bescheinigungen festgehalten und schließlich von einem einflussreichen Funktionär, den man per Telefon in einer Sauna erreicht hatte, erlöst wurden. Anekdoten aus einer anderen Zeit.

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Einer Zeit, die für Kristina Voloshchuk noch sehr lebendig ist. Sie wurde als Tochter eines Armeeangehörigen in Karl-Marx-Stadt geboren, dem heutigen Chemnitz. Die Umwälzungen in der DDR erlebte sie nicht mehr mit, die Rote Armee zog 1994 ab. Kindheit und Schulzeit verbrachte sie bereits in Kyiv. Sie ist ein postsowjetisches Wendekind, das in ihren Songs Jugenderinnerungen an die chaotischen Freiheiten der Neunziger und Nullerjahre verarbeitet. Ein „unschuldiges“ Pop-Tableau, das bei Luna allein schon deshalb politisch aufgeladen ist, weil freigekommene Asow-Stahlwerk-Kämpfer der Band berichteten, dass sie ihre Songs in von der russischen Armee eingekesselten Kellerräumen gehört haben. Zum ukrainischen Boulevardstück gar gerät Kristinas Trennung von ihrem Ex-Mann Yuri Bardash. In einer „Brisant“-artigen Sendung mit VIP-Moderatorin Ksenia Sobchak geht es um Sex und Landesverrat: Der erfolgreiche Mainstream-Produzent hatte sich über Georgien nach Moskau abgesetzt und lobt nun in staatsnahen Medien seine neue Heimat über den grünen Klee. In Kyiv wiederum erzählt man sich, dass der russische Geheimdienst FSB ihm in einer üblen Schuldenangelegenheit ausgeholfen habe – und nun propagandistische Gegenleistungen erwarte. Der russische Überfall hat für Zerwürfnisse nicht nur in ukrainisch-russischen Familien gesorgt. Auch im Showbiz gibt es keine neutralen Positionen. Es tobt ein Kulturkrieg. „Landesverrat“ oder unbedingte Solidarität. Nach dem Konzert von Luna in Kyiv schauen einige ehemalige Asow-Stahl-Kämpfer aus Mariupol in der Garderobe vorbei.

EIN STADTTHEATER ALS VERTEILSTATION DES WORLD FOOD PROGRAMME

Die Nachtfahrt nach Cherson verläuft ruhig. Als es langsam hell wird, zeigt das digitale Waggonthermometer elf Grad Celsius. Aus dem winterkalten Kyiv ins mediterrane Klima rings ums Schwarze Meer. Bereits am Bahnhof in Cherson wird der Unterschied zur Hauptstadt deutlich, wo die Spuren des Angriffs aus dem Frühjahr weitgehend beseitigt sind.

Cherson war von den Russen besetzt, doch ab dem 9. November erfolgte ihr „glatter Rückzug“ aus der 290.000-Einwohner-Stadt. „Das Naziregime in der Ukraine rührt sich noch, aber unsere Methode, das Land im Dunkeln zu lassen, funktioniert. Die Zeit spielt für uns“, hieß es damals im gewohnt zynischen Tonfall in der russischen TV-Sendung „Westi Nedeli“ („Nachrichten der Woche“). Nun liegen hohe Sandsackstapel vor den Bahnhofsfenstern, schwer bewaffnete Patrouillen in Kampfkluft stehen in der Halle. Per Kleinbus geht es direkt zum Mykola-Kulisch-Musiktheater, während der Besatzungszeit ein Hort des kulturellen Widerstands. Aktuell wird der große Saal als Lager für das World Food Programme der UN genutzt, um in Pappkisten verpackte Standardrationen aus Nudeln, Konserven und Speiseöl an die Menschen zu verteilen, die an diesem Morgen in einer langen Schlange vor der Uni nahe des Theaters warten.

Im Nieselregen ist dumpfes Artilleriegewummer von der anderen Seite des Dnepr zu hören. Seit die Stadt wieder in ukrainischer Hand ist, ist sie auch wieder Ziel regelmäßiger russischer Raketenangriffe. Theaterleiter und Schauspieler Oleksandr Knyha empfängt zu einem Rundgang durch sein Haus, das neben der humanitären Hilfe zumindest wieder einen eingeschränkten Spielbetrieb aufnehmen will. „Die Menschen in Cherson haben uns gesagt, wie wichtig ihnen das Theater ist“, sagt Knyha, der im März von den russischen Besatzern verhaftet worden war. „Eine Mischung aus Einschüchterung und dem Versuch, mich zur Kooperation zu bewegen. Wir waren zuvor in den sozialen Netzwerken sehr aktiv und wurden von diversen europäischen TV-Sendern interviewt. Wir haben an Kundgebungen in der Nachbargemeinde Oleshky teilgenommen. Es war klar, dass sie irgendwann kommen würden.“ Über verschlungene Wege gelang ihm damals die Flucht nach Lwiw. Jetzt versucht er Zuversicht auszustrahlen. Kulturbetrieb unter Extrembedingungen, zumal die Raketenangriffe auf Cherson Ende Dezember auch wieder zivile Opfer fordern. Die Fahrt durch die Oblast Cherson führt zu Orten des Krieges. Etwa an ein sowjetisches Mahnmal auf einer Anhöhe vor der Stadt zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, als man noch gemeinsam gegen die Deutschen kämpfte. Jetzt hat die Ukraine in dieser strategisch wichtigen Zone einige Feldschlachten gewonnen. Soldaten in Privatfahrzeugen stoppen vor der Kiefernallee, um Erinnerungsfotos zu schießen.

In der sechzig kilometer entfernten Hafenstadt Mykolajiw stehen auf einem Baumarktparkplatz ein großes Wärmezelt und eine stromgeneratorgetriebene Feldbäckerei, die die Menschen mit Brot versorgt. Im komplett zerstörten Behördenhaus war ein Schiffsgeschoss eingeschlagen und hatte mindestens 23 Mitarbeiter der Stadtverwaltung getötet. Als eine nachfolgende Invasion in der Uferzone aufgerieben wurde, führte der ukrainische Befehlshaber die gefangenen russischen Offiziere zum Ehrenmal der Sowjetarmee auf den Platz vor dem bizarr zerstörten Mykolajiwer Stadthaus. „Sie sollten sehen, dass die Denkmäler aus der Zeit des Kommunismus noch stehen. So viel zu Putins Erzählung vom faschistischen Regime in der Ukraine. Keine Ahnung, ob jemand von denen darüber mal nachgedacht hat“, erzählt der lokale Guide mit einer Mischung aus Fatalismus und Zuversicht. Bei unserem Imbiss in einem nahe gelegenen Restaurant fällt wiederholt der Strom aus. Das wird von den Gästen stoisch ausgesessen – der Betrieb geht weiter. An einer improvisierten Gedenkstädte mit Teddybären und selbst gebastelten Plakaten treffen wir echte Kriegsreporter mit Schutzwesten und Helmen. „Hilft auch nichts, wenn eine Rakete einschlägt“, murmelt einer unserer Begleiter. Ein kerniger Sanitätssoldat mit kanadischer Flagge auf dem Uniformpullover erzählt bei einem kurzen Schwatz, dass er schon seit Monaten in der Region ist. Offiziell darf er gar nicht hier sein. Aber er will helfen, wo er kann. Eine Art Ein-Mann-Sanitätsbataillon.

Diese Randzonen des Kriegs bilden die traurige Realität hinter dem Selbstbehauptungswillen der Pop- und Kulturschaffenden. In Kyiv und erst recht im neunzig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt liegenden Lwiw, ehemals die alte k. u. k. Metropole Lemberg, kann man Kaffee trinken oder schick ins Restaurant gehen. Eine Lage allerdings, die sich jederzeit ändern kann. Doch als wir am Abend in den Nachtzug gen Westen steigen, kommt mir der Weyes-Blood-Song „The Worst Is Done“ in den Sinn. Das Artilleriegedonner von der anderen Seite des Flusses lassen wir hinter uns zurück, ebenso die Menschen, die hier leben.

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„RUSSIA IS A TERRORIST STATE“

Mit seinen barocken Gebäuden und Kirchen ist Lwiw der Rückzugsraum für bislang fünf Millionen Binnenflüchtlinge, die von hier aus in „ruhige“ Regionen des Landes oder ins europäische Ausland verteilt worden sind. Jetzt gibt der Oberbürgermeister einen kleinen Empfang. Zur Begrüßung wird heißer Kakao ausgeschenkt. In der Stadt der Schokoladenmacher ist man sichtlich stolz auf den neuen Krankenhauskomplex, der, lange vor dem Krieg geplant, nun eine wichtige Rolle bei der Versorgung von Verletzten und Ausgebombten aus dem ganzen Land spielt. Noch aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs existiert ein ausge-dehntes Netzwerk an Luftschutzbunkern, das seit Kriegsbeginn von jungen Volunteer-Gruppen koordiniert und betreut wird. Der OB trägt ein gelbes „Unbroken“-Armband mit blauer Schrift. Seine lange vom Tourismus geprägte Stadt musste sich neu erfinden. Botschaften wie „We together as one great family“ beschreiben die neue Rolle als Standort für Vertriebene und internationale Medien.

Die Aufarbeitung wird wiederum von der Kultur übernommen. Eine Fotoausstellung im städtischen Art Center, einer alten, in Eigenregie von örtlichen Künstlern renovierten Villa, zeigt schwarz-weiße Porträtfotos von etwa 75 im Krieg getöteten Spitzensportlern. Freiwillige zumeist. „Wir verlieren unsere besten Leute! Wofür? Für nichts!?“, murmelt ein Mann, der die internationale Besuchergruppe anführt, auf Englisch. Nebenan eine Ausstellung von Künstlern und Künstlerinnen aus der besetzten Ostukraine.

Als gegen Abend ein lockeres Abschiedstreffen in der Bar des inoffiziellen Nachtbürgermeisters von Lwiw steigt, ist die Stimmung fast schon entspannt. Im People’s Place am zentralen Kathedralenplatz findet eine Vernissage der Illustratorin und Künstlerin Marta Leshak statt. Ihre Arbeiten sind doppelbödige Interpretationen ukrainischer Folk-Motive. Auf einer weinroten teppichartigen Struktur ist der Schriftzug „Russia is a terrorist state“ zu lesen. Auch das von der russischen Luftwaffe zerstörte Mega-Frachtflugzeug Antonow An-225 wird bei Leshak zum Agitprop-Piktogramm. Die international aktive Designerin, die mit ihrem Team auch das auf Englisch übersetzte „Travelbook Ukraine“ mit 30 Landkarten und rund 1200 Einzelmotiven gestaltete, verstand sich vor dem Einmarsch der Russen nie als politische Künstlerin. Ähnlich wie bei der Band Luna hat sich das schlagartig geändert. Am Rande ihrer Ausstellung sagt sie, es gehe einerseits darum, „während der russischen Invasion ein möglichst normales Leben zu führen. Wir sind schließlich normale Menschen. Andererseits ist eine eskapistische oder gar neutrale Position nicht mehr möglich.“ Also versucht sie die heikle Balance zwischen Patriotismus und künstlerischer Selbstbestimmung.

Als wir unsere Mäntel von den Garderobenhaken nehmen, sagt der Oberbürgermeister: „Ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen in besseren Zeiten! Erzählen Sie zu Hause, was Sie hier gesehen haben. Das hier ist kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Es ist ein Kampf zwischen einem totalitären System und einer Demokratie.

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