Okean Elzy: Treffen mit der größten Band der Ukraine

Die Band um Swjatoslaw Wakartschuk füllt in ihrer Heimat Stadien. Begegnung mit „Slawa“ und seinem Bandkollege Miloš Jelić in Berlin.

Swjatoslaw Wakartschuk, den die meisten bloß Slawa nennen, ist ein wahnsinnig charismatischer Sänger. Mit seiner Band Okean Elzy schreibt er seit den später 90er-Jahren poetische, zutiefst romantische Lieder irgendwo auf halber Strecke zwischen Gitarrenpop und Rockmusik.

Man höre zum Beispiel „Обійми“ (was übersetzt ungefähr ‚Halte mich‘ bedeutet): Eine sehnsüchtige Gitarrenballade, durch die Slawas Stimme mit leisem Echo weht, bevor sie im Refrain eine erstaunliche Kraft entwickelt. Das Liebeslied stammt aus dem Jahr 2013 – wird seit einigen Jahren aber vor allem als Antikriegslied gesungen. 2022 coverten Coldplay den Song in Warschau und Okean Elzy sangen ihn bei zahlreichen „Help For Ukraine“-Konzert, die sie auf der ganzen Welt spielten.

Wir treffen Slawa und seinen Bandkollegen Miloš Jelić an einem Winterabend in Berlin. Die beiden wollen über den nächsten Schritt in ihrer Karriere sprechen, der natürlich auch vom illegalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geprägt ist. Okean Elzy haben im letzten Jahr bei Warner Music unterschrieben und planen in diesem Jahr ihr erstes englischsprachiges Album. Die erste Single „Voices Are Rising“ ist soeben erschienen und wieder so eine kraftvolle Ballade – diesmal produziert von Gregg Wattenberg. Sie dürfte ihren zahlreichen ukrainischen Fans gefallen, soll aber natürlich vor allem den internationalen Markt öffnen. Aus kommerziellen Gesichtspunkten hätten Okean Elzy das kaum nötig. Sie haben in den letzten Jahren mit Benefizkonzerten sehr viel Geld für die Ukraine gesammelt und sind seit langem die vielleicht bekannteste Band des Landes.

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Botschafter für die Ukraine

„Ich bin ganz ehrlich: Für uns alle ist das Neuland“, sagt Slawa. „Wir haben zwar schon unser gar nicht so kleines Publikum – aber mit diesen Songs wollen wir vor allem darüber hinaus wirken. Ich wünsche mir, dass viele Menschen unsere Musik hören und bin allen dankbar, die uns dabei helfen können.“ Okean Elzy geht es also eher darum, als Botschafter ihres Landes gehört zu werden, um mit ihrer Kunst das Bewusstsein über die Ungerechtigkeit dieses Krieges im Westen aufrecht zu erhalten. Dass Slawa an diesem Abend in Berlin sitzen kann, um mit uns zu sprechen, verdankt er auch der Tatsache, dass die ukrainische Regierung die Wichtigkeit dieser Mission erkannt hat. „Es ist paradox“, sagt Slawa, „als Musiker glaubte ich immer an die Macht der Liebe. Aber wenn der Krieg im eigenen Land wütet und die Menschen bedroht, die man liebt, muss man zum Kämpfer werden.“ Jetzt sei er in seinem Land „gleichzeitig Rockstar und Leutnant der Armee.“ Sein Bandkollege Miloš Jelić ist übrigens gebürtiger Serbe. Er lebte, bis Russland die Ukraine angriff, in der Ukraine und ist von der allgemeinen Wehrpflicht nicht betroffen.

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Wenn man mit Okean Elzy und dem Team der Band kommuniziert, kann es trotzdem vorkommen, dass eine Terminabsprache per Mail mal Sätze wie diese enthält: „Geht auch Mittwoch oder Donnerstag? Am Montag und Dienstag ist Slawa an der Front.“ Obwohl Slawa kein Frontsoldat ist, reist er oft in diese Gebiete. So auch in den ersten Tagen der Eskalation des Ukraine-Krieges, der ja eigentlich schon Ende Februar 2014 mit der illegalen Annexion der Halbinsel Krim seinen Anfang nahm. Als der russische Angriff am 24. Februar 2022 begann, sammelte Slava mit seinen Freunden und seinem jüngeren Bruder zunächst die Frauen und Kinder aus seinem Umfeld und seinem Team ein und brachte sie in den etwas sichereren Westen der Ukraine. Dann beschloss er, das zu tun, was den Ukrainer:innen schon immer wichtig war: Er spielte seine Lieder für sie – an Orten, an denen es für lange Zeit keine normalen Konzerte mehr geben würde. Später gingen Slava und sein Bruder zum Militär. Einen seiner ersten Front-Auftritte hatte Slawa in Saporischschja, wo er vor Sanitäter:innen und verwundeten Soldaten a cappella sang. Es gibt Bilder, auf denen er mit Helm in einem Schützengraben steht und singt. Einige Auftritte mussten abgebrochen werden, weil in der Nähe wieder gekämpft wurde.

Okean Elzy

„Für mich fühlt sich der 24. Februar heute wie ein einziger, sehr langer Tag an“, sagt Slawa, und Miloš Jelić ergänzt: „Ein sehr anstrengender, beschissener Tag, der fast zwei Jahre gedauert hat.“ Für die US-Kollegen schrieb Slawa nach diesen Reisen einen erschütternden Text, der vielleicht am besten erklärt, wie es im Herzen dieses drahtigen, charismatischen Mannes aussieht: „Ich habe gesehen, dass das Zentrum von Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, völlig zerstört ist und aussieht wie London oder Coventry im Jahr 1941. Man sieht so etwas, man ist Zeuge, man ist Teil davon. Aber man darf sich nicht das Privileg herausnehmen, sentimental zu werden. Wenn man anfängt, sentimental zu werden, bricht man irgendwann zusammen. Also wende ich die Technik des Kriegers an: Ich versuche, dem Krieg gegenüber so zynisch wie möglich zu sein. Bis ich nachts allein im Bett liege. Dann schreibe ich Gedichte oder rufe meine Familie an oder höre einfach meine Lieblingsmusik. Dann bin ich wieder Slawa, dieser sensible Musiker, der glücklich ist, ein kreativer Mensch zu sein. Aber tagsüber bist du jemand, den dein Land braucht, du inspirierst die Menschen, du bist stark, du bist energisch, du bist positiv.“

Als wir ihn auf diesen Text ansprechen, sagt Slawa: „Es ist schwierig, das jemandem zu erklären, der dieses Leben nicht leben muss. Es geht einfach darum, diese hohe Energie zu kontrollieren. Man kann nicht von einem Tag auf den anderen von zynisch auf entspannt umschalten. Es ist ein bisschen so, als würde man jeden Morgen aufstehen, um den Mount Everest zu besteigen. Es ist hart, es kostet unheimlich viel Kraft, aber man ist so motiviert von diesem höheren Ziel, dass man es durchzieht. Und am Abend, wenn du erschöpft bist, widmest du dich den Dingen, die dich wieder aufrichten.“

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Slawa und Okean Elzy nutzen diese Energie nun also für die Musik. „Irgendwie fühlen wir uns wie damals, Mitte der Neunziger, als wir Okan Elzy in Lwiw gründeten und einfach die Musik machen wollten, die wir lieben“, sagt Slawa. „Der Spirit, die Abenteuerlust, die Energie sind ähnlich – obwohl so vieles andere gerade viel schlimmer ist.“ Trotzdem ist es kein leichter Schritt, nun plötzlich auf Englisch zu texten. „Für mich war das eine Herausforderung“, sagt Slawa. „Ich habe mich immer in erster Linie als Komponist gesehen und schon auf Ukrainisch manchmal lange mit den Texten gerungen. Ukrainische Songtexte funktionieren auch anders …“ Er überlegt kurz und nickt, als Miloš schneller die richtigen Worte findet: „Im Ukrainischen singt man eigentlich Gedichte. Poesie.“ Dann setzt Slawa wieder ein: „Genau. Und englische Texte sind oft reines Storytelling. Sehr szenisch. Das war ganz ungewohnt für mich. Wenn man sonst sehr metaphorisch über seine Gefühle singt, ist es schwierig, plötzlich in konkreten Szenen zu denken.“

Songs über Krieg und Frieden

Mit „Voices Are Rising“ ist ihnen ein kraftvoller Start im Englischen gelungen. In der ersten Strophe singt Slawa über das, was er im Text für die US-Ausgabe des ROLLING STONE geschrieben und uns erzählt hat: „Too many thoughts / Too many words / Stuck in my head / Nothing is easy / Not enough time / Nothing inside / Painted in black / Losing the feeling.“ Der Chorus klingt dann fast wie ein aktuelles Mission Statement von Okean Elzy: „And I’ll sing till my heart makes a sound / And I’ll sing till my heart’s breaking out / Voices are rising.“ Was diesen Song und auch die weiteren auszeichnet: Lyrisch betrachtet kann man sie alle im Kontext des Krieges lesen, zugleich funktionieren sie aber auch als Lieder über das Leben und Lieben.

Slawa sagt selbst: „Ich habe es immer gehasst, ‚politischer Künstler‘ genannt zu werden. Aber wir hatten in der Ukraine diese zwei großen Revolutionen – die Orange Revolution 2004 und die Maidan-Revolution 2014. Die Menschen haben damals auf den Barrikaden und auf der Straße ständig unsere Songs gesungen. Lieder, die nie als politisches Statement gedacht waren. Ich habe in meinem Leben fast 200 Lieder geschrieben und davon sind höchstens drei oder vier sozialkritisch – der Rest sind Liebeslieder. Aber die Ukrainer:innen haben ‚Без бою‘ (Bez boyu) genommen und sich die Zeilen angeeignet. Eigentlich geht es um einen Jungen, der ein Mädchen liebt und für sie kämpfen will, aber der Titel heißt übersetzt ‚Ich werde nicht aufgeben, ohne zu kämpfen‘ und das passte natürlich gut als Schlachtruf.“ Slawa habe sich in erster Linie immer als Künstler verstanden, aber: „Ich bin eben in einem sehr politischen Umfeld aufgewachsen. Deshalb trieft mir das Politische wahrscheinlich aus allen Poren.“ Dass viele seiner Songs heute sehr politische Hymnen sind, hat für ihn also eine gewisse Ironie. Ebenso wie die Tatsache, dass er ab 2019 eine Weile aktiver Politiker war und die junge, liberale Partei „Stimme“ gründete, in der er aber keine aktive Rolle mehr einnimmt.

Man darf gespannt sein, wie die neuen Songs aufgenommen werden. Okean Elzy und ihr Anliegen haben auf jeden Fall eine große Bühne verdient – auch und vor allem in Zeiten, in denen die Bereitschaft zur Hilfe der Ukraine hind und wieder zu schwinden scheint. Weil die Hilfen für das Land, wie in den USA und auch bei uns, zum zynischen Spielball von Parteikonflikten werden. Weil Russland, das immer noch fast täglich mit Raketen und Drohnen zivile Ziele angreift, viel Geld in seinen Informationskrieg investiert. Weil der nach dem antisemitischen Terrorangriff der Hamas eskalierte Nahost-Konflikt den Ukraine-Krieg überstrahlt. In all dem Schlechten ist es also ein guter Moment, alte und neue Fans aufzufordern, die Stimmen zu erheben.

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